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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Held
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rechte Hand bewegte sich und zuckte, und vielleicht war sie gerade dabei, meinen Großvater zu verhauen, vielleicht schälte sie im Traume Kartoffeln oder zählte die Groschen, die übrig waren vom Lohn meines Großvaters, damit war sie schnell fertig.
    Ich konnte mir vorstellen, dass sie im Schlaf womöglich glücklicher war als im Wachen, dass es ihr mit der Spritze von Dr. Samstag besser ging, als wenn sie wütend an ihr schlechtes Leben dachte und an das, was ihr alles verdorben war daran. Denn nichts anderes beschäftigte sie ja als das, was ihr am Leben verdorben war. Vielleicht war es doch gut, wenn ihr der Dr. Samstag noch eine Spritze verpasste. Vielleicht konnte sie sich das Leben ein klein wenig schöner phantasieren in einem gnädigen Rausch durch die Zaubermittel in der Doktortasche. Mein Großvater Klemens hatte sich sein ganzes Leben durch allerlei Rausch und Räusche verschönert.
    Ganz Scholmerbach hatte eine große Begabung zum Rausch und konnte in einer einzigen Nacht in einen so starken Sinnestaumel verfallen, dass niemand mehr aus der Betäubung erwachte, und das nannten wir Sommernooscht und Bloiteduft, und wir gaben den Blumen und der Nacht die Schuld, und tatsächlich waren es die blühenden Blumen und die ausschlagenden Bäume und die duftenden Heuwiesen, die meinem Dorf den Verstand raubten. Niemand hatte dem Hopfen befohlen zu wachsen, und niemand hatte der Gerste gesagt, sie solle derart ins Kraut schießen, aber aus Wasser Wein zu machen, war die Idee des Herrgotts allein, und dann kam mein Großvater noch dazu und hat mit dem Schnaps angefangen, und das war der Anfang vom Ende. Dass Apollonia nicht mitgemacht hatte und der Herrgott und mein Großvater kein Maß und kein Ziel hatten, das war ihr Unglück allein.
    Meine Großmutter durfte nicht sterben, denn wenn sie starb, würde sie beide wiedersehen müssen, den Herrgott und meinen Großvater. Wenn das geschah, dann konnten die sich in Acht nehmen, beide hatten sie ihr das Leben versaut.
    Aber der Schlaf war kein Tod, und der Schlaf war kein Wachen, und vielleicht sollte ich jetzt auch ein wenig schlafen, ich war ja noch müde von gestern, von Maria Cron, aber ich wollte auf einmal nicht neben Apollonia schlafen, die dem Tod und dem Herrgott und dem Großvater näher gerückt war. Ich wollte zurück in mein Mädchenbett, in dem der Tod so fern war und in dem kein Blut und kein Sägemehl und keine schwere Krankheit je ihren Geruch im Kissen hinterlegt hatte. Nur meine Träume und meine Sehnsucht und ein wenig Maiglöckchenduft hingen über den Federkissen, und meine blumenbedruckte Leinenbettwäsche roch nach dem frischen Wind von den Wiesen und Feldern des Westerwaldes, und darin hatte niemals jemand anderer gelegen als ich mit meinen sechzehn Jahren.
    Mein Jim war nun schon seit fünf Tagen hinter den Toren der Fivel Fox-Kaserne verschwunden, und wie ich hörte, musste er das Office vom First Sergeant streichen, weiß, ganz weiß, und dann das Office vom Corporal und dann das Office vom Commander. Ich wollte Jim ein Brieflein hineinschmuggeln, aber ich wagte es nicht, noch mal einen von den Amerikanern zu belästigen, und Lydia Kosslowski hatte das ihrige getan. Vielleicht konnte man bei den Amis einfach anrufen, aber das schien mir so vermessen, dass ich lieber warten wollte, bis Jim entlassen wurde und wir Wiedersehen feiern konnten, dass es nur so krachte.
    Mir blieb nur, nachts schwülstige, sehnsuchtsvolle Liebeslieder zu hören, »Love hurts« von Nazareth und »I am sailing« von Rod Steward hörte ich tausendmal, und die Zeit schien nicht zu vergehen. Mein Schwarzweißbild von Jim aus Minnesota war schon geknickt, weil ich es unter das Kopfkissen gelegt und darauf geschlafen hatte, und der Bierdeckelfetzen, auf den er seine Telefonnummer geschrieben hatte, klebte in meinem Tagebuch, und ich füllte Seite um Seite mit meiner großen Liebe und schrieb auch noch am Buch über meine Oma, ich schrieb und träumte und sehnte mich. Dass ich noch in die Schule ging, erschien mir ein höchst lächerlicher Nebenzweck meines Lebens, der sich gelegentlich am Rande meines Bewusstseins störend bemerkbar machte.
    Am Samstag ging ich mit Bea und Stefanie und Brigitt zum Polters in die Dorfdisko und wir tanzten auf »Tanze Samba mit mir« und »No woman, no cry« und auf »Daddy Cool«, und dann hatten wir keine Lust mehr. Wir wollten viel lieber mal in die Waldeslust gehen und auf der Musikbox das »Knallrote Gummiboot« drücken oder den

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