Apollonia
würde. Und während er sich zu Tode schuftete in den Barracks, lebte ich ein lustiges Leben und betrank mich und verjubelte mein Taschengeld für Schnaps und Bier, und jetzt ging es mir elend.
Meine Großmutter Apollonia hat immer gesagt, unser Dorf sei dem Untergang geweiht und der Suff hätte schon Dutzende von ordentlichen Menschen in den Abgrund gerissen und der Teufel hat den Schnaps gemacht. Kein anderes Dorf sei so schlimm wie Scholmerbach, und mir würde es eines Tages genauso gehen wie meinem Großvater Klemens oder der immer betrunkenen Großtante Aloysia, die hätten sie gefunden im Wohnzimmer im Delirium.
Das Wort Delirium schwebte als ewige Drohung über uns allen.
Im Augenblick aber hörte ich aus dem Schlafzimmer von Apollonia nur ein Gesäusel, und nun war sie es, die klang wie im Delirium oder sonstwie nicht ganz bei Sinnen.
Sie sagte nicht mehr Erbarmen und Erbarmen, aber es klang wie: Ich mache mir Gedanken, ich mache mir Gedanken, ich muss mich bekümmern.
Ich lag auf dem roten Schesselong unter der klappernden Mühle am rauschenden Bach und hob meinen ungekämmten Kopf und rief herüber:
– Ei Oma! Warum machst dou dir Gedanken?
– Eysch mache mir Gedanken, eysch mache mir so sehr Gedanken!
Ich schlurfte zu ihr herüber und sah, wie sie an die Decke starrte und mit dem linken Arm unentwegt über die Decke fuhr.
– Ei Oma, über was machst du dir denn Gedanken?
– Ei um euch!!! Was soll denn einmal aus euch werden! Was soll nur aus euch werden!?
– Ja, Oma, wieso denn, wir gehen doch alle in die Schule, gut, meine Noten sind im Augenblick … aber egal … du musst dir doch keine Sorgen machen!
– Eysch mache mir Gedanken…ich mache mir so Gedanke … was soll nur aus euch werden??
– Aber Oma, et ist doch alles in Ordnung, Papa hat eine gute Arbeit, meine Brüder und ich sind auf der Schule … warum soll nichts aus uns werden??
– Ach, sagte sie und ihr Arm lag endlich still. Ihr seid doch alle so dumm! Ihr seyd doch su domm wie Bohnenstroh!
Ich wusste, dass Dr. Samstag auch am Sonntag kam, um seine Spritzen zu geben, und dass es mir in meiner kläglichen Verfassung nicht möglich sein würde, ein vernünftiges Wort mit ihr zu reden. Das gefiel mir nicht, das gefiel mir gar nicht. Ich wollte sie noch nicht gehen lassen in eine nebelige Welt, in die ihr Geist entglitten war. Ihre matten Augen sahen mich nicht mehr, und ihr Gesicht ähnelte mehr und mehr einem kleinen, alten Mädchen. Da war kein Stolz mehr, das Insignium der Dapprechter, er drohte dieser schwindenden, schrumpfenden, blasser werdenden Gestalt verloren zu gehen.
Morgen musste ich zur Apotheke und die Schachteln auf der Theke ausbreiten und sehen, was Dr. Samstag ihr verschrieben hatte, um sie herauszureißen aus der verschwommenen Milchsuppe ihres Bewusstseins, in der wir ihr alle so schrecklich dumm vorkamen, einer wie der andere, allesamt, so dumm wie Bohnenstroh.
Am nächsten Tag ging ich zur alten Apotheke »Hui Wäller« in Wällershofen und legte die Beipackzettel auf den Ladentisch aus schwerem Eschenholz.
– Guten Tag, sagte ich, und dass ich mich erkundigen wolle, ob diese Medikamente zusammenpassten oder wirklich notwendig seien. Meine Oma benehme sich nämlich sehr seltsam, obwohl sie ja eigentlich am Darm operiert sei und bis dahin immer noch ganz klar in der Birne war.
Die Apothekerin nahm ihre Brille an der Goldkette von ihrem ordentlichen Busen und setzte sie auf und las die Zettel durch und ging dann zu einem dicken Buch, das links auf einem Stehpult lag, ebenfalls aus Eschenholz. Es sei, sagte sie, auf den ersten Blick nicht mit einer Medikamentenunverträglichkeit zu rechnen, aber man wisse ja nie und sie müsse erst mal blättern und wer denn der Hausarzt sei. Ich zögerte. Wenn ich »Dr. Samstag« sagte, dann hatte ich schon gleich alle Karten aus der Hand gegeben.
– Dr. Neumann, sagte ich.
– Ach, sagte sie. Den kenne ich gar nicht.
– Ist, glaube ich, ein Neuer im Krankenhaus Limburg. Der hat ihr das so mitgegeben.
Sie biss sich auf die geschminkten Lippen und blätterte und blätterte, dann rief sie den alten Apotheker Marksen zu Hilfe und der sah auch noch mal nach. Schließlich schüttelten beide den Kopf und sahen zu mir herüber und meinten:
– Den Wirkstoff Proxdymentaris darf man eigentlich nicht zusammen mit dem Fortrat geben, das beschleunigt die Dysphorie …, Gedankenflucht und optische Halluzinationen …
– Gedankenflucht!, sagte ich. Das
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