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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Held
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und den Zollstock ausklappen und mit dem Bleistift Markierungen auf einen Balken malen. Den Hammer und den Hobel klemmte er unter den Arm, und den Winkel konnte er zwischen Knie und Handballen stützen, so konnte er akkurat arbeiten; da hat ihm keiner was vorgemacht, da war er immer noch der Schnellste.
    Mein Opa aber hatte sich keinen Finger abgeschnitten, weil er einfach zu selten in die Nähe von gefährlicher Arbeit kam, als dass ihm etwas hätte geschehen können, oder aber weil er die Finger doch einmal für irgendwas würde brauchen müssen. Da hatte der Herrgott seine schützende Hand über ihn gehalten, das konnte man nicht wissen – reicht doch der Verstand des Menschen nicht aus, um die Pläne Gottes zu begreifen.
    Meiner Großmutter Apollonia wäre es lieber gewesen, mein Großvater hätte sich einen oder zwei Finger abgeschnitten und benommen wie ein ordentlicher Mensch, Krieg hin oder her. Ihr Vater, der Dapprechter Gustav, war schon eine Weile unter der Erde, und er hatte in allem recht gehabt, was er ihr über Klemens prophezeit hatte. Darüber konnte sie sich halbtot ärgern. Die anderen hatten ordentliche Männer und mussten sie hergeben für den Krieg, sie hatte Klemens, und der blieb daheim.
    War das recht, dass sich die einen in Gefahr begeben mussten und die anderen konnten verschont bleiben, das fragte man sich auch in Scholmerbach. Die einen waren mit Überzeugung in den Krieg gezogen, und die anderen bedrückt, und die geblieben waren, hörten immerzu Nachrichten, was nun geschah mit den ihren. Die Zimmerleute hatten einen Volksempfänger, und Klebbels hatten einen Volksempfänger, und in der Waldeslust hatten sie einen Volksempfänger, und natürlich hatte der Bürgermeister einen und wer sonst noch im Dorf. Fredo war da, um aufzupassen, damit keiner den Feindsender hörte. Er ging jeden Abend durch das Dorf und lauschte, ob einer etwas Falsches sagte oder den Führer kritisierte oder freche Reden hielt, ob einer heimlich eine Sau schlachtete oder Schnaps brannte oder zu Fronleichnam eine Fahne heraushängte. Denn Fredo war ja jetzt der Ortsgruppenleiter und ein wichtiger Mann, so wie früher der Gendarm, nur noch mehr. Fredo war dem Adolf so ergeben wie andere Leute dem Herrgott, konnte man meinen, und dessen Wort war Fredo wie das Vaterunser, und was der Adolf sagte, war ihm Befehl bei Tag und bei Nacht, sogar noch im Ehebett. Der Führer hatte nämlich gesagt, das Volk muss wachsen, also zeugte Fredo Kinder für das Reich, und seine Frau Else wurde schwanger ein ums andere Mal, beinahe wie Magda Goebbels, Kinder musste man kriegen, Kinder für Adolf, noch eines und noch eines und noch eines!
    Meine Mutter Marianne war das einzige Kind der Eheleute Klemens und Apollonia Heinzmann, mehr hatte ihr dürrer Schoß nicht hervorgebracht, und wo hätte es auch noch hingesollt, wo doch das einzige Kind in das Bett der Eheleute hineingestopft wurde, Jahr für Jahr, und zwischen Klemens und Apollonia lag, zwischen meinem Großvater, der in seinem langen Unterhemd und der Unterhose schlief, und meiner Großmutter im dünngeschabten Nachtgewand, das sie seit ihrem zwanzigsten Jahr trug. Während sie größer und größer wurde, wälzte sich Marianne immer mehr auf die Seite meiner Großmutter, und Apollonia lag immer dichter an der Bettkante. So schliefen sie all die Kriegsjahre hindurch, und meine Mutter wurde älter und größer und immer älter und schwerer.
    Meine Urgroßmutter Kathrein lag nebenan, eingepfercht zwischen ihren Schränken und Kisten und der Flickwäsche, und rührte sich nicht, aus Angst, es könnte ihr noch mehr aus dem Leib herausfallen. Man musste ihr alles bringen, die Kartoffeln und die Schmalzbrote und die Waschlappen und das Bettgeschirr, und was sie von sich gab, musste man wieder fortbringen, ohne dass ein Wort darüber verloren wurde, und ein Doktor durfte nicht kommen, weil man sich so schämte über das, was da unter der Decke im Stillen geschehen war.
    Während also draußen in der Welt der Krieg tobte und Adolf mit den Scholmerbacher Männern alles zuoberst und zuunterst warf und der Welt mit Panzern, Mörsern und Granaten beizubringen versuchte, dass wir ihr überlegen seien, herrschte bei Klemens und Apollonia eine stickige Enge, die meiner Großmutter immer dringlicher zusetzte. Es war ihr, als müsste sie mal um sich schlagen, mal irgendeinem den Knüppel vor den Kopf hauen, aber das konnte sie ja nicht. Sie war wie von allen Seiten eingepfercht, man rückte ihr

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