Apollonia
Die Glocken waren abgehängt, und ein Lastwagen hatte sie abgeholt, damit sie eingeschmolzen wurden für Munition. Aber eine Glocke hatten Willi, Klemens und der alte Honiel heimlich mit dem Gäulskarren geholt und hinter den Weidehecken vergraben. Von Langdehrenbach über Wennerode, Böllsbach und Scholmerbach wurde es still im Westerwald, und keine Hochzeitsglocken und keine Totenglocke und kein Abendläuten erklang mehr.
Mein Großvater saß also in der Dorfkirche, die hatte vorne in einem wunderschönen Gewölbe die Muttergottes mit einem Strahlenkranz, und auf der Empore stand das Harmonium, und das Harmonium schwieg, weil der Heens Aloysius im Krieg war, und wer weiß, ob er je wiederkommt. Man weiß nicht, wann es meinem Großvater in den Sinn kam, aber eines Tages ging er hinauf auf die Empore und betrachtete sich das Harmonium. Es war ein besonderes Harmonium, denn es hatte nur schwarze Tasten, lauter schwarze Tasten. Es war aus dunklem Holz und hatte ein geschnitztes Gitterornament über den Tasten, und das Ornament war mit türkisem Stoff hinterlegt. Es war schwer, die Tretschemel zu bedienen, um den Saugwind zu entfachen, und gleichzeitig das Orgelpedal zu treten, eine Kunst für sich, und wenn man es verkehrt machte, hörte man einen Ton und den Saugwind, und der Saugwind war lauter als der Ton.
Mein Großvater setzte sich an das Harmonium und arbeitete sich mit dem Tretschemel und mit dem Blasebalg und mit seinen wie durch ein Wunder in der Schneidmühle unversehrt gebliebenen Zimmermannshänden durch die Tastatur und brachte einige schiefe Töne zustande. Ein jeglicher Ton aus der freudigen Schöpfung des Herrn, und war er noch so misslungen, war ihm lieber als die lähmende Stille und das grauenvolle Entsetzen, das sie alle befallen hatte, und er konnte nicht anders, als dem schiefen und schnaufenden und ersterbenden Ton einen weiteren an die Seite zu setzen und immer und immer wieder in das hölzerne Pedal zu stampfen, bis das verstaubte Gerät sich ächzend und stöhnend an seine Bestimmung erinnerte, zu neuem Leben erwachte und mächtig ein vieltönendes Getöse aus seinem Leib herausdröhnte, wie es nie zuvor ein Mensch gehörte hatte.
In der Dorfkirche war das Gebet verstummt, und die Mütter auf den Kniebänken waren in der Andacht gestört und wussten nicht mehr, an welcher Stelle sie am Rosenkranz gewesen waren, und beteten »der für uns gegeißelt worden ist« und »der für uns Blut geschwitzt hat« durcheinander und sagten: »Oh Maria, hilf«, und beteten die Litaneien »heilige Agathe, bitte für uns, heiliger Barabas, bitte für uns, heiliger Stephanus, bitte für uns, heiliger Zebedäus, bitte für uns«.
Mein Großvater aber freute sich über jeden Ton, den er getroffen hatte, unbändig, und er konnte nicht aufhören, und die Weiber dachten, lass doch den Simpel, und wenn ihm drei Töne hintereinander gelangen, so tat es ihrer Seele gut und fiel in ihr Herz hinein und linderte den Schmerz und klang gerade so wie: Oh Maria, hilf uns allen, in unsrer tiefen Not.
Maria Muttergottes war die Himmelskönigin, die wundervoll prächtige, hohe und mächtige, allzeit jungfräuliche, himmlische Braut. Mein Großvater übte alle Lieder, und die Marienlieder waren ihm so in die Hände gegangen und in das Harmonium gefahren, als wäre ihm der Herrgott selber beigesprungen und hätte mit auf die Tasten gedrückt.
Es blüht der Blumen eine, auf ewig grüner Au.
Wie diese blühet keine, so weit der Himmel blau.
Wenn ein Betrübter weinet, getröstet ist sein Schmerz,
wenn ihm die Blume scheinet ins leidenvolle Herz …
Und wer vom Feind verwundet … zu Tode niedersinkt
von ihrem Duft gesundet, wenn er ihn gläubig trinkt.
Die Blume, die ich meine, sie ist euch wohl bekannt:
die fleckenlose Reine … Maria wird genannt.
Die heilige Maria Muttergottes stand stumm auf ihrer Weltkugel und neigte den Kopf, sie trug ein rotes Kleid und einen blauen Mantel und eine goldene Krone auf dem braunen, langen Haar. Auf dem Arm hatte sie den kleinen, halbnackten Jesus und mit den Füßen zertrat sie eine Schlange. Es schien, als sei ihr schon viel zu Ohren gekommen, und ihr Gesicht war voller Anteilnahme, der Kerzenschein erhöhte den Ausdruck von Heiligkeit, und die schiefen Töne meines Großvaters konnten sie wohl nicht stören. Mein Großvater war auch nicht mehr abzubringen von dem Harmonium. Er übte besessen, Tag für Tag, bis er einzelne Lieder begleiten und am Sonntag sogar bei dem Pater
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