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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Held
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Presley wieder nach Amerika gegangen sei, da hätten sie hier alle geweint. Der wäre ja in Friedberg gewesen, von hier ein Katzensprung.
    Nee, log ich tapfer weiter. So schlimm sei das nicht. Ich hätte den ja nur mal soo … nur mal sehen wollen, aus Interesse an Amerika, auch wegen Englisch und so. Naja … und am besten nicht immer daran denken. Ich wollte mich ablenken und ein wenig aufschreiben, was die Oma Apollonia früher alles erlebt hätte.
    Mein Vater runzelte schon wieder die Stirn.
    – Also, ich weiß nicht. Et ist ja schön, dass dou dich so sorgst um deine Oma, aber diese dauernde Beschäftigung mit ihr … mir wäre et lieber, dou gehst mal mit deinen Freundinnen ins Eiscafé … oder schwimmen … so wie früher immer!
    – Das Leben von der Apollonia aufschreiwen … da war wirklich naut Schönes dran, sagte meine Mutter. An die Zeit will keiner mehr denken. Hör doch auf mit dem alten Kram, der interessiert doch kaanen.
    – Mutter, wie alt warst dou noch mal, als dou zum ersten Mal in einem eigenen Bett geschlafen hast?
    – Ach, wie alt war ich? Elf oder zwölf. Aber das musst dou nicht schreiwen.
    Als meine Mutter Marianne zum ersten Mal in einem eigenen Bett schlief, war sie beinahe dreizehn Jahre alt.
    Sie wälzte sich noch den ganzen Krieg über auf den drei Bettkeilen zwischen Klemens und Apollonia auf der Seite ihrer Mutter hin und her, bis im Jahre 1943 in der Nähe einige Bomben fielen und ihren Schlaf zerrissen und der Schrecken sie für Stunden so überwach hielt, dass sie glaubte, nie mehr schlafen zu können.
    Das war im Mai, als bei der Angriffswelle auf das Ruhrgebiet auch drei Bomben auf den kleinen Flughafen hinterm Jammertal niedergingen. Es war, als würden die Steinbrüche gesprengt, und meine Mutter war so schrecklich erschrocken, als würde die Welt untergehen, und sie wollte sich nur noch verstecken, unter dem Bett oder im tiefsten Keller oder bei meiner Großmutter Apollonia unter der Schürze.
    Seit dieser Nacht glaubte sie, dass die Bomben sie treffen konnten, sobald sie schlief. Sobald sie die Augen schloss und in den ersten Schlaf hineinglitt, schreckte sie auch schon wieder hoch und trat dabei Apollonia und Klemens derart, dass beide abwechselnd die ganze Nacht wach waren und erst im Morgengrauen schweißgebadet ein wenig Schlaf fanden, bis das Vieh erwachte und lauthals schrie im Stall.
    Am dritten Morgen sagte Apollonia, dass die Ruhrpottwitwen endlich in das alte Schulzimmer vom Backhaus ziehen sollten, wie es schon lange versprochen war. Der Bürgermeister hatte ihnen den Raum fest zugesagt, und der Spülstein war gerichtet, und die Tür hing wieder in den Angeln, jetzt mussten sie gehen.
    Großonkel Balduin kam und half Apollonia und Klemens, den Witwen den Tisch und den Schrank die Treppe herunterzutragen, und hatte den Wagen vorgespannt mit der braven Liesel und dem blinden Hans, und Wilhelmine Wratzlaff und Luise Auguste Nowak hatten ihre Nähmaschine und ihre Flickwäsche vom Reichsarbeitsdienst zusammengepackt und eine Kleidertruhe hinausgestellt.
    Da kamen Fredo und der Bürgermeister gelaufen und schrien:
    – Halt! Halt! Alles Retour!! Aufhören!!
    Meine Großmutter Apollonia glaubte, nicht recht zu hören:
    – Seid ihr verrückt geworden, wieso dann? Et war alles ausgemacht!! Alles besprochen! Dey zwei gehen ins alde Schulhaus!!
    – Nein! Nein! Das alte Schulhaus wird gebraucht! Ganz!
    Denn vom Bahnhof in Ellingen und von der langen Straße aus Hellersberg herunter kamen schon die ersten Menschengestalten mit Koffern und Karren aus dem zerbombten Wuppertal, aus Wattenscheid und Gelsenkirchen und mussten Zuflucht finden. Da ging es den Paulinchens und den Schlossens und den Müllerkollens und den Honiels und allen gleich: Man stopfte ihnen Ruhrpottwitwen und Waisenkinder und Hungerleider bis unters Gebälk. Man wusste nicht, wohin mit ihnen, und sie zogen durch Linnen und durch Wällershofen und durch Böllsbach und Pfeifensterz. Kaum dass man ihnen irgendwo einen Schuppen gegeben hatte, schon kamen die Kölner und die Frankfurter, die hatten auch kein Dach mehr über dem Kopf. Es schien, als sollten sie alle auf die Dörfer kommen, von überall her, und Ellingen und Scholmerbach und Hellersberg sollten es richten.
    In der schweren Zeit, erzählte meine Großmutter Apollonia, waren die Kirchen gerammelt voll.
    Mein Großvater Klemens setzte sich hin und unterhielt sich mit dem Herrgott, als hätte er sonst nichts zu tun. Es war still geworden.

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