Aprilgewitter
dann Nathalia zu. »Und du, Nati?«
»Ich mag nicht lesen. Wenn ihr nichts dagegen habt, spiele ich ein wenig mit Jonny!« Nathalia streckte die Arme nach dem Jungen aus und hob ihn auf.
»Du bist ganz schön schwer geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.« Sie setzte den Jungen auf den Teppich und nahm neben ihm Platz. Eine Zeit lang beäugte Konrad sie ein wenig misstrauisch, ob sie das Kind nicht zu grob behandelte. Das Mädchen ging jedoch so sanft mit dem Kleinen um, dass er sich wieder seiner Zeitung zuwenden konnte.
Lore aber hatte das Gefühl, als würden die Buchstabenzeilen sich in windende Würmer verwandeln, und sie vermochte keinen einzigen Absatz zu lesen, ohne den Faden zu verlieren. Zuletzt gab sie es auf und sah zu Gregor hinüber.
»Sie sind aber sehr fleißig, Herr Hilgemann. Was machen Sie denn da?«
Der junge Mann hob den Kopf und wischte sich über die Stirn. »Ich lerne, gnädige Frau. Schließlich will ich mein Studium irgendwann abschließen und meinen Doktor machen.«
»Das ist ein sehr guter Vorsatz. Wissen Sie auch schon, wo Sie studieren werden?«, fragte Lore.
»Sobald meine Familie in der Lage ist, mir Geld zukommen zu lassen, werde ich in die Schweiz reisen und es dort versuchen.«
Nathalia sah auf und schüttelte den Kopf. »Freiwillig würde ich nicht in die Schweiz gehen. Dort gibt es nur Berge und Ziegen, und die Leute reden so seltsam, dass kein Mensch sie versteht!«
Die Erwachsenen lächelten über ihr wenig schmeichelhaftes Urteil, das aus ihrer Abneigung gegen das Schweizer Internat geboren worden war.
»Ich gehe bestimmt nicht freiwillig dorthin«, erklärte Gregor. »Aber da mein Professor mich wegen eines Streiches von der hiesigen Universität verwiesen hat, bleibt mir nichts anderes übrig.«
Der junge Mann fragte sich, wie viel er vor dem Mädchen enthüllen durfte. Laut Mary Penn handelte es sich bei ihr um die beste Freundin der Frau von Trettin, und sie hatte Nathalia vollkommen vertrauenswürdig genannt. Trotzdem war sie nur ein Kind, und er wollte nicht, dass sie von dem Haftbefehl erfuhr, der auf ihn ausgestellt war.
»Wenn Sie nicht freiwillig gehen, sei es Ihnen verziehen!« Nathalia nickte ihm gönnerhaft zu und keuchte im gleichen Augenblick auf, denn Jonny hatte nach ihren Haaren gegriffen und riss daran.
»Das darf man nicht. Es tut furchtbar weh!«, wies sie den Jungen zurecht und versetzte ihm einen leichten Klaps auf die Hand.
»Wenn er dir lästig wird, kann ich ihn gerne wieder nehmen«, bot Konrad an.
Doch Nathalia winkte nur ab. »Jonny und ich kommen ausgezeichnet miteinander zurecht. Nur an den Haaren ziehen darf er mich nicht.«
Unterdessen dachte Lore über Gregors Worte nach. »Wollen Sie nach Ihrem Studium in der Schweiz bleiben?«
»Nein! Ich werde den Spuren vieler Achtundvierziger folgen und nach Amerika auswandern. Dort kann ich unbesorgt ein neues Leben beginnen.«
»Was sind denn Achtundvierziger?«, wollte Nathalia wissen. Auch Lore war nicht im Bilde, und so sahen beide den jungen Mann neugierig an.
Statt seiner übernahm Konrad die Antwort. »Anno 1848 gab es in vielen Städten Deutschlands Unruhen und Aufruhr. Mancherorts wie in Berlin starben sogar Menschen. Es dauerte Monate, bis die Ordnung wiederhergestellt war. Da den Aufrührern schwere Strafen drohten, sind viele von ihnen ins Ausland geflohen, etliche davon auch nach Amerika. Ein Onkel von mir gehörte dazu. Er siedelte mit anderen Deutschen in der Provinz Texas in einem Ort mit Namen Luckenbach.«
Diese Sicht der Dinge wollte Gregor nicht im Raum stehen lassen. »Da möchte ich Ihnen widersprechen, Herr Benecke. Die Achtundvierziger waren keine Aufrührer! König Friedrich Wilhelm hatte in den Befreiungskriegen gegen Napoleon eine Verfassung und eine konstitutionelle Monarchie versprochen, diese Zusagen aber nach dem Sieg nicht eingehalten. Es war das Recht der Menschen, eine Verfassung einzufordern.«
Für Augenblicke sah es so aus, als kämen die beiden Männer ins Streiten. Dann aber winkte Konrad mit einer Handbewegung ab. »So ganz unrecht haben Sie nicht, Herr Hilgemann. Mein Onkel war ein braver Mann und hat sich gewiss nicht ohne Grund gegen den Monarchen aufgelehnt – obwohl man das eigentlich nicht tun darf.«
»Und was ist, wenn der Monarch Unsinn treibt? Es gab in der Geschichte viele Schurken und Verrückte auf Thronen, die ihre Untertanen in großes Leid gestürzt haben. Ist es da nicht besser, wenn die Vertreter des Volkes
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