Aprilgewitter
Lore, an diesem Tag ihren und Marys Modesalon aufzusuchen. Um Fridolins Wunsch zu willfahren, wollte sie es als Kundin tun. Zwar nähte sie den festlichen Teil ihrer Garderobe selbst, doch zwei, drei Hauskleider konnte sie sich dort anfertigen lassen. Außerdem vertrieb sie sich damit die Langeweile. In Bremen hatte sie sich oft gewünscht, etwas mehr Zeit für sich selbst zu haben, doch nun merkte sie, wie sehr sie Nathalia von Retzmann vermisste. Fünf Jahre lang war sie deren Freundin, Erzieherin und Gouvernante gewesen und hatte das Mädchen mit Liebe und Überzeugung dazu gebracht, etliche Unarten abzulegen.
Nun hätte sie sich darüber gefreut, wieder einmal einen lebendigen Frosch in ihrem oder Fridolins Bett zu entdecken und ihn durch das Schlafzimmer hüpfen zu sehen. Mit einem Seufzer dachte sie daran, dass die Zeit nicht stehenblieb. Nathalia besuchte nun eine Höhere Töchterschule in der Schweiz und würde dort die nächsten fünf Jahre verbringen, um den letzten Schliff zu erhalten. Dann war es mit den Fröschen im Bett gewiss ein für alle Mal vorbei.
Die Ankunft der Droschke vor Marys Ladenlokal beendete Lores Gedankengang. Tief durchatmend, um den muffigen Geruch im Innern des Wagenkastens loszuwerden, bezahlte sie den Kutscher und trat dann auf die Eingangstür zu. Davor stand bereits eine junge Frau, die Hand halb ausgestreckt, als wisse sie nicht so recht, ob sie eintreten solle oder nicht. Sie trug einen Mantel, der einmal teuer gewesen war, aber schon längst nicht mehr der neuesten Mode entsprach. Auch war ihr Strohhut eher für besseres Wetter als diesen kühlen Apriltag geeignet.
Da die Dame ihr im Weg stand, sprach Lore sie an. »Entschuldigen Sie, aber bitte treten Sie doch ein, damit auch ich ins Haus gelangen kann.«
Die Unbekannte zuckte zusammen und drehte sich zu ihr um. »Verzeihen Sie, ich …«, sagte sie und trat mit ängstlichem Blick beiseite.
Lore öffnete die Tür und hielt sie einladend offen. »Kommen Sie! Oder wollten Sie nicht den Modesalon aufsuchen?«
Unwillkürlich nickte die andere, ging aber gleichzeitig einen Schritt rückwärts. Lore versuchte, die junge Frau mit dem sonderbaren Benehmen einzuschätzen. Die altmodische Kleidung war ihr sofort aufgefallen, jetzt nahm sie auch das schmale, blasse Gesicht mit den leicht vorstehenden Wangenknochen wahr. Wie es aussah, war die junge Frau entweder auf eine schlanke Linie versessen, oder sie hungerte mehr, als ihr guttat.
Lores Interesse war erwacht, und sie winkte ihr, näher zu treten. »Sie sollten nicht länger zögern, denn ich will die Tür nicht über Gebühr offen halten!«
Da sie aber im Gegensatz zu ihren Worten geduldig wartete, bis die junge Frau sich entschieden hatte, folgte diese ihr schließlich durch den Hausflur in den Vorraum des Salons. Dort drückte sie sich in die dunkelste Ecke.
Unterdessen war eine Näherin auf Lores Erscheinen aufmerksam geworden und gab ihrer Chefin Bescheid. »Verzeihen Sie, Mrs. Penn, aber soeben ist Freifrau von Trettin eingetroffen.«
»Danke!« Mary stand auf, ergriff ihren Gehstock und trat in den Vorraum, den sie bis auf Lore und die junge Frau gähnend leer fand. In Gedanken versetzte sie dem Mädchen, das sich hier aufhalten und die Kundinnen empfangen sollte, ein paar Ohrfeigen und fragte sich, wohin sie wieder verschwunden war. Sie ließ sich ihren Ärger jedoch nicht anmerken, sondern begrüßte Lore so, wie sie jede wohlhabende Dame empfing.
»Seien Sie mir willkommen, Frau von Trettin. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Er ist eben frisch gemacht worden.«
»Guten Tag, Mrs. Penn. Ich danke Ihnen. Kaffee tut an diesem kühlen Morgen gut. Das sagen Sie doch auch?«, wandte Lore sich an die junge Frau in dem altmodischen Mantel.
Diese zuckte erneut zusammen. »Oh nein! Meinetwegen brauchen Sie sich keine Umstände zu machen.«
»Ob ich nun eine Tasse oder zwei eingieße, bleibt sich gleich«, antwortete Mary und bat beide Besucherinnen nach hinten. Dort forderte sie eine der Angestellten auf, im Vorraum zu wachen. Eine andere brachte zwei Stühle für Lore und die junge Dame herbei. Kurz darauf hatten sie je eine Tasse Kaffee in der Hand, den Lore mit sehr viel Milch verdünnte.
»Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?« Schon um Fridolins willen sprach Mary ihre Freundin wie eine ganz normale Kundin an. Ihre Näherinnen wussten zwar, dass Lore und ihr Mann Geld für diesen Modesalon gegeben hatten, kannten aber die Hintergründe nicht.
Lore
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