Aprilgewitter
einflussreichen Verwandten, die ihr Vater gerne als Kunden seiner Bank gewonnen hätte.
»Ein hübsches Kind, Ihre Tochter«, erklärte Frau von Stenik mit einem spöttischen Blick auf die blasse Gestalt mit den mausgrauen Haaren, die in der Stofffülle ihres übertrieben verzierten Kleides beinahe verschwand.
»Freiherr Fridolin von Trettin und Gemahlin!«, kündigte der gemietete Haushofmeister jetzt Lore und Fridolin an.
Sofort richteten Grünfelder und seine Damen ihre Blicke auf das ankommende Paar. Während es dem Bankier gelang, seine Gefühle zu beherrschen, entgleisten die Gesichtszüge seiner Frau und seiner Tochter. Sie hatten sich Lore als Bauerntrampel vorgestellt, der grobe Hände hatte und breites, ostpreußisches Platt sprach. Stattdessen sahen sie eine elegante Frau vor sich, deren Kleid die Harmonie ihrer schlanken Gestalt perfekt zum Ausdruck brachte.
Lore knickste vor der Dame des Hauses und dem Gastgeber, dann führte Fridolin sie weiter, ehe die beiden Grünfelder-Damen die Sprache wiedergefunden hatten.
»Das ist also Trettins angebliche Schneiderin!« Rendlinger, der vierschrötige Mann in dem schlecht sitzenden Frack, den Lore im Vorraum gesehen hatte, starrte ihr verblüfft nach.
Unwillkürlich verglich er sie mit seinen Töchtern, die eher Wilhelmines bisherigen Vorstellungen von Lore entsprachen. Er konnte sich nicht einmal damit trösten, dass ihm als reicher Industrieller alle Türen offen standen, während Fridolin nur ein verkrachtes Adelsbürschchen war. Diese Zeit lag lange zurück. Mittlerweile war Freiherr von Trettin als Vizebankdirektor nicht weniger angesehen als er. Und in den bestimmenden Kreisen der Stadt galt er seiner langen, altadeligen Ahnenreihe wegen sogar noch mehr.
Auch andere Gäste wunderten sich, und Kriemhild von Wesel, deren spitze Zunge Frau von Steniks Bosheiten in nichts nachstand, kam sofort auf Lore zu, um sie anzusprechen. »Endlich lerne ich Sie kennen, liebe Frau von Trettin! Sie wissen ja gar nicht, wie oft wir Ihren Gatten gebeten haben, Sie uns doch endlich einmal vorzustellen.«
Lore warf einen kurzen Blick auf Fridolin und entnahm seiner Miene, dass die junge Dame nicht die Wahrheit sagte. Daher ließ sie sich von deren falscher Freundlichkeit nicht einlullen, sondern fragte: »Wären Sie so gütig, mir die Dame vorzustellen, Fridolin?«
Die höfliche Anrede, gepaart mit dem Vornamen, verblüffte die Umstehenden. Während Fridolin Lore und Kriemhild von Wesel einander vorstellte, drehten sich die meisten Gespräche der Umstehenden um Lore.
»Über Trettins Frau hat man uns einen gewaltigen Bären aufgebunden. Sie ist nie und nimmer bürgerlicher Abkunft und gewiss auch keine Schneiderin«, sprach ein Herr eben mit Nachdruck.
Seine Ehefrau nickte. »Da haben Sie vollkommen recht, mein Lieber. Ich habe schon immer gewusst, dass Malwine von Trettin eine Lästerzunge ist. Die Frau soll ihre Familienstreitereien selbst ausfechten und sie nicht uns aufdrängen. Immerhin ist Lore von Trettin eine Enkelin des Freiherrn Trettin auf Trettin, und ich glaube auch nicht an einen bürgerlichen Vater. Fräulein Grünfelder ist die Tochter eines solchen, und der Unterschied zwischen den beiden ist doch offensichtlich. Gewiss hat Leonore von Trettin damals einen Herrn von Huppach geheiratet. Herr von Trettin hätte seiner Tochter niemals die Heirat mit einem Bürgerlichen gestattet!«
Andere hörten es und trugen es weiter, und noch bevor Lore und Fridolin ihre Plätze eingenommen hatten, war sich der Großteil der Gäste sicher, dass die Gerüchte über sie jeder Grundlage entbehrten.
IV.
F ür Wilhelmine Grünfelder wurde das Fest zur Qual. Zwar war es ihr gelungen, sich Fridolin als Tischherrn zu sichern, während Lore an Emil Dohnke abgeschoben worden war. Ihre Hoffnungen, den jungen Freiherrn so zu beeindrucken, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als sich umgehend in sie zu verlieben, verflüchtigten sich jedoch rasch. Fridolin antwortete zwar höflich auf ihre Fragen, suchte aber nicht von sich aus das Gespräch mit ihr, sondern unterhielt sich mehr mit dem russischen Fürsten, der ihm gegenübersaß. Wohl war ihr Vater stolz darauf, dass Fjodor Michailowitsch Tirassow die Einladung angenommen hatte, sie aber wünschte den Russen nach Sibirien, wo er ihrer Meinung nach hingehörte.
Im Gegensatz zur Tochter des Gastgebers unterhielt Lore sich angeregt mit dem jungen Bankangestellten zu ihrer Rechten und einem schon älteren Gutsherrn auf
Weitere Kostenlose Bücher