Aprilwetter
mit zwei Bechern Kakao in den Händen zu ihm kommt, ihm einen davon gibt und dann mit ihm anstößt, als ginge es darum, Brüderschaft zu trinken.
»Vierzehn Jahre«, sagt sie. Benno weiß, was damit gemeint ist, und ergänzt: »Und sechsundachtzig Tage.«
»Hast du im Ernst die Tage gezählt?«
»Nein. Das war geschätzt.«
—
Später in der Nacht geht er in seine Wohnung hinunter. Daniels Matratze ist zu eng für sie beide, und auf dem Sofa will Benno nicht schlafen. Seine Unterhose und das T-Shirt hat er vom Balkon geholt, ausgewrungen und in seine Waschmaschine gesteckt. Er ist zu müde, um noch irgendwas zu denken, aber noch immer spürt er, wie richtig das war, wie einfach und selbstverständlich, als wären sie schon seit Jahren ein Paar und einander nur nach einem langen Urlaub wieder in die Arme gefallen. Er schafft es gerade noch, die Hose abzustreifen, und schläft ein, noch während er die Decke über sich zieht.
—
Am späten Vormittag, als er einen kleinen Stau an der Theke abarbeiten muss – sechs Frauen auf einmal wollen Latte macchiato, und Valerio ist nicht da, weil Milch knapp wird –, da wird Benno auf einmal klar, dass irgendwas nicht stimmt: Er ist nicht erschüttert. Er müsste verwirrt sein, sich wie ein neuer Mensch fühlen, er müsste erschlagen oder verstört oder atemlos glücklich sein, nach dem, was letzte Nacht geschehen ist, aber nichts Derartiges lässt sich in seinem Innern finden, soviel er auch, in all der Hektik des Betriebs, danach forscht. Nach vierzehn Jahren, in denen er von der Erinnerung an Christine auf die eine oder andere Art gezehrt hat, nach der Aufregung der letzten Tage, in denen sie auf einmal so nah war, nach all der Besessenheit, die er für sie kultiviert hat, über ein Drittel seines Lebens, nach dem Liebestaumel letzte Nacht im strömenden Regen, nach alldem müsste er etwas anderes fühlen als Gelassenheit und gute Laune. Er müsste ein anderer Mensch sein. Gereinigt. Erlöst. Den ersten Tag seines neuen, endlich richtigen Lebens in irgendeiner Art von Erregung verbringen, aber alles ist wie immer. Er zittert nicht, sieht die Welt nicht mit anderen Augen, in anderen Farben oder mit größerer Weisheit, nichts. Gute Laune, weiter nichts.
Nicht einmal ein schlechtes Gewissen gegenüber Daniel findet er in seinen Gedanken. Sie sind erwachsen, so etwas ist normal, es passiert in jeder Sekunde, und Daniel wird es überdies nicht erfahren. Sie werden einfach eine Affäre haben, Christine und er, vielleicht über Jahre, vielleicht auch nur kurz, vielleicht auch überhaupt nicht, wenn das gestern Nacht schon alles gewesen sein sollte, wenn Christine es als einmaliges Ereignis verstanden haben will, wer weiß das schon so genau. Nur eine Affäre. Vielleicht nur ein Seitensprung. Der Himmel ist nicht aufgerissen. Benno ist nicht neugeboren. Der große Wechsel auf die Zukunft der letzten vierzehn Jahre ist nicht eingelöst worden. Der Hausfreund hat was mit der Frau von oben. Das ist schön. Mehr nicht.
»Was ist?«, fragt die rothaarige Frau vor ihm, »hab ich was im Gesicht?«
»Nein«, sagt Benno, »wieso?«
»Sie gucken mich an, als wär mir die Nase verrutscht oder so.«
»Entschuldigung. Ich war in Gedanken. Tut mir leid.«
Sie lächelt ihn an, nimmt ihren Kaffee und sagt: »Sie sind verliebt.«
Er lächelt zurück, macht eine zweifelnde Gebärde mit den Händen und gleichzeitig eine kleine Grimasse und denkt, das stimmt immerhin. Verliebt bin ich. Aber nicht in der erhofften Größe.
Jetzt ist auch Valerio wieder da, und der Mittagsansturm kann kommen.
—
Die Nacht war kurz, und Benno spürt gegen halb drei, dass er kaum noch die Augen offen zu halten vermag. Es ist nicht viel los um diese Zeit, und er fragt Valerio, ob er ihn für eine Stunde allein lassen dürfe. Souad ist den ganzen Tag weg, sie macht am frühen Abend den Führerschein und wollte vorher noch Stunden nehmen.
»Muss schlafen«, sagt Benno.
»Klar«, sagt Valerio und grinst verständig. Anscheinend wissen alle hier Bescheid. Oder ein Mann kann in Valerios Augen nur aus einem Grund müde sein.
Im Treppenhaus fällt Benno ein, dass er noch nichts von Christine gehört hat. Im Café war sie nicht, und telefoniert haben sie auch nicht. Sollte er ihr nicht vielleicht helfen, die schwere Matratze hochzustellen und an die Wand zu lehnen, damit sie trocknen kann? Oder sich wenigstens erkundigen, ob ihr Fieber weg ist? Aber wenn sie sich nicht meldet, dann will sie vielleicht
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