Aquila
Idioten, weil er sich in die Affäre verwickeln ließ, und sagte sich gleich darauf, dass ihm keine andere Wahl geblieben war. Denn gerade er, Colin Chandler, wohl behütet und konventionell, achtete sonst immer auf Distanz und bemühte sich, objektiv zu bleiben und zu handeln.
Am späten Nachmittag grillten sie Steaks und tranken dazu einen guten Ciaret, dann faulenzten sie in der Bibliothek, in Gesellschaft der gesammelten Werke von Thackeray, George Eliot, Jane Austen und Trollope. Sie schnüffelten in Schreibtisch-Schubladen herum – alle leer, wie sich herausstellte – und bewunderten die alten Drucke mit englischen Jagdszenen. Nirgends fand sich ein Hinweis darauf, was in Stronghold normalerweise vor sich ging – nichts, um ihre Isolation zu durchbrechen.
Polly ging nach oben, während er am knisternden Feuer sitzen blieb und den Wind ums Haus jagen hörte. Vielleicht war er eingenickt; denn als Nächstes tippte sie ihm auf den Arm. In der Hand hielt sie das Päckchen, das Prosser so sorgfältig in Öltuch gewickelt hatte, bevor sie sein Haus in Maine verließen.
286
»Wir schauen es noch mal an«, sagte sie. »Vielleicht hast du eine Eingebung, wenn du es jetzt wieder siehst.«
Vorsichtig entfernten sie die Verpackung. Unter dem Öltuch hatte Prosser das Porträt und die Dokumente offenbar in mehrere Lagen Zeitungspapier gepackt. Die Hände auf die Hüften gestützt, sah Polly ihm beim Auswickeln zu, und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Hektisch und voller Panik warf Chandler eine Papierumhüllung nach der anderen beiseite. Zum Schluss blickte er mit bleichem Gesicht auf.
»Nichts als Zeitungspapier«, erklärte er.
»Er hat uns übers Ohr gehauen«, flüsterte Polly. Ihr breiter Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln.
»Ich kapiere das nicht!« Chandler kapitulierte.
»Wusste ich’s doch!« griente sie. »Ich hab’s geahnt. Der Mann hat was Verschlagenes an sich …« Mit dem Fuß stieß sie ein Stück Zeitungspapier zur Seite und strahlte ihn an. »Verstehst du, Colin? Zum ersten Mal ist etwas Unerwartetes passiert.
Prosser sagt, er gibt uns das ganze Zeug mit, und dann behält er es. Einer, den wir gut kennen, hat uns belogen. Und ich dachte, er hätte Angst, dass es den Ganoven in die Hände fallen könnte!«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, bekannte er. »Das alles ist mir ziemlich unheimlich.«
Mitten in der Nacht wachte er auf und hörte Polly im Halbschlaf atmen. Er spürte ihren Körper und ihre Wärme, als sie sich bewegte und an ihn schmiegte. Das sorgfältig in Öltuch gewickelte Päckchen alter Zeitungen drängte sich beharrlich in seine Gedanken. Wenn er die Augen zu machte, sah er es vor sich – rätselhaft höhnisch … Warum hatte Prosser das getan?
Seiner Meinung nach ergab es keinen Sinn: Nachdem sie belagert wurden, hätten es logischerweise die Flüchtenden an sich nehmen müssen. Prosser hatte es jedoch behalten und war damit ein viel größeres Risiko eingegangen … es sei denn – Er 287
drehte sich auf die Seite und betrachtete die Wolken im Mondlicht. Er war müde, seine Augen trüb. Wieso sah er dann einen rosaroten Schein am Nachthimmel? Rosarot – ohne Zweifel. Links gedämpft, hell hinter dem Rechteck des Fensters.
Nordlichter? Eine Sternschnuppe? Nein, wahrscheinlich irgendein Feuer. Während er sich noch Gedanken machte, verblasste der rosarote Schein.
Obwohl er todmüde war, interessierte ihn das Schauspiel.
Polly murmelte im Schlaf und zog ihm die Decke weg. Er stand schließlich auf und ging zum Fenster. Vor einer Nebelbank, die schwerelos über dem Wasser schwebte, sah er die Hexenzähne deutlich im Mondlicht, das durch den Spitzenschleier der Wolkenfetzen drang. Das rosarote Licht war von links gekommen, aber es war nun zu einem verschwommenen
Streifen verblichen und verschwand vollständig, während er zusah. Er zündete seine Pfeife wieder an, die nach altem Tabak schmeckte, und starrte so lange auf den Fleck, bis er sicher war, dass die Nacht ihre normale Farbe zurückgewonnen hatte.
Nachdenklich und voller Sorge sog er an der Pfeife.
Zuerst bemerkte er die Bewegung unter dem Fenster gar nicht, dann dachte er, seine müden Augen hätten ihm einen Streich gespielt oder es wäre ein Nebelfetzen, ein Wölkchen, das sich vor den Mond geschoben hatte, oder vielleicht auch ein Symptom seiner Erschöpfung oder eine Nervenkrise. Dann bewegten sich die Schatten erneut, immer wieder, und ihm stockte der
Weitere Kostenlose Bücher