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Aquila

Aquila

Titel: Aquila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gifford
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oberen Ende einer langen, baufälligen Holztreppe, die im ungleichmäßigen Zickzack die moosbewachsene steile Felswand hinabführte.
    Der Strand am Fuß der Treppe bestand aus einer Ansammlung wuchtiger Felsen, über ein flaches Sandstück verteilt, das schließlich ins Meer überging. Etwa hundert Meter unter ihnen und knapp fünfzig Meter weiter rechts lagen – nass und grau –
    ein Bootshaus und ein Landesteg. Dicht dahinter breitete sich eine schmale schiefergraue Felsplatte aus, stellenweise mit Moos und bräunlichem Gestrüpp bewachsen, und ziemlich weit draußen bildeten sechs unregelmäßig große Felsen eine natürliche Passage in Form eines Bogens, der sich in die Bucht hinein krümmte wie der zahnlückige Unterkiefer einer Hexe.
    Weiß schäumte die Gischt auf im Kontrast zu den grauen, roten, blauen und schwarzen Felsbrocken auf dem Strand.
    Während sie noch still die Szenerie betrachteten, zog der Nebel vorüber wie eine Geisterarmee und verschluckte die Hexenzähne, bis nichts mehr zu sehen war als eine
    verschwommene stille Wasserfläche, die sich sanft auf den Strand zubewegte. Ein weiterer Windstoß – und da waren sie wieder; sie erinnerten Chandler an die großen Kreise aus Felsbrocken, die er in der englischen Landschaft hatte liegen sehen, hinterlassen von Menschen früherer Zeiten. Ihre Bedeutung und ihr Ehrfurcht gebietendes Schweigen würden für immer ein Rätsel bleiben. Ihm kam der Gedanke, dass auch diese Insel und das Haus ihre Geheimnisse hatten, die sie nie verraten würden.
    Als er zum Haus zurückschaute, war es im Nebel
    verschwunden. Dort, wo es gestanden hatte, war nichts als graue Leere. Als er sich wieder umdrehte, wusste er, was ihn erwartete: Die Hexenzähne waren weg, das Meer lag glatt und ruhig vor ihm.
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    Polly probierte ein Lächeln; auch sie hatte es bemerkt. »Wir sind mittendrin – stimmt’s?«
    »Klettern wir nach unten«, erwiderte er.
    Die Treppe ächzte, aber sie hielt. Am Strand kamen sie jedoch nur mühsam voran; sie stolperten oft und lädierten dabei ihre Schuhe, doch allmählich wurde ihnen alles gleichgültig. Auf großen grauen Felsen prangten breite rosa Streifen. Polly hob hübsche kleine Kiesel auf und steckte sie in ihre Tasche. Aus der Nähe gesehen, warf sich das Meer mit einer aufbrausende Wildheit gegen die Felsbrocken, die sie oben nicht vermutet hätten. Dann rollte die Brandung über die kleineren Steine herein und leckte an ihren Schuhen. Blaugrau wie Stahl wölbte sich der Himmel über ihnen.
    Sie schlugen den Weg zum Bootshaus ein. Chandler deutete mit dem Kopf auf den schmalen Steg, der über das schäumende Wasser dorthin führte. »Sieht nicht besonders stabil aus«, meinte er. Das Holz war morsch, einige Bretter hatten sich gelöst. Er nahm ihre Hand. »Komm, lassen wir es bleiben. Wir sollten lieber zum Haus zurückgehen. Stell dir vor, jemand will uns holen und findet uns nicht und fährt wieder ab.«
    Sie nickte und drückte ihm die Hand.
    Es war ein romantischer Augenblick: Ihr Atem schwebte in Sprechblasen vor ihnen, während sie Händchen haltend den Strand entlang schlenderten wie ein Pärchen in einer Zigarettenreklame. Einmal blieben sie stehen. Sie schloss die Augen, er küsste sie und nahm sie fest in den Arm.
    Doch während sie die schmale Treppe zu der Baumgruppe hochstiegen, beschlich sie ein unangenehmes Gefühl der Bedrohung, der Spannung.
    Hand in Hand liefen sie zum Haus zurück. Ein Reh huschte über den Rasen. Sein weißer Schwanz wirkte wie eine kleine Freundschaftsflagge. »Es ist wunderbar, allein zu sein«, bekannte Polly und sah zu ihm auf.
    Doch sie waren nicht allein.
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    Aus dem Buschwerk am oberen Ende des Pfads, den sie in der Nacht zuvor hinaufgeklettert waren, sah ein Mann ihnen nach, bis sie hinter einer durchziehenden Nebelwolke verschwanden.

    Chandler saß mit ausgestreckten Füßen allein vor dem Fenster und betrachtete den Rasen und die Wasseroberfläche weit draußen, die von etwas dunklerem Graublau war als die ständig durch sein Blickfeld ziehenden Nebelschwaden. Er strengte sich an, aber er sah nichts. Ohne Polly neben sich – die irgendwo herumwurstelte – überkam ihn wieder die Sorge um Hugh Brennan und Bert Prosser. Sie konnten beide tot sein. Er selbst fühlte sich hilflos und verzweifelt, auf der Insel gefangen, unfähig, den beiden zu helfen – wobei er nicht sicher war, worin seine Hilfe bestehen sollte.
    Er ging hinaus und lief auf der Veranda auf und ab, schalt sich einen

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