Aquila
seine Beine über die Bettkante. Seine Gedanken schweiften ab. Er musste sich zusammenreißen. Liam und er waren voll beschäftigt mit diesen beiden Kerlen, Lum und 198
Abner, und mit dem Harvard-Professor und der Frau.
»Liam, alte Schlafmütze, Zeit zum Aufstehen!«
Als Chandler allmählich erwachte, hörte er die Brandung und aus dem anderen Bett Polly, die geräuschvoll durch den Mund atmete. Die Ruhe hatte ihm gut getan. Sein Geist war wieder klar. Er wusste sofort, wo er sich befand und was er zu tun hatte.
Es war kurz nach acht. Vorsichtig stieg er aus dem Bett, stellte aber zufrieden fest, dass er nicht mehr so unbeweglich war und dass es dem verletzten Ohr besser ging. Er trat ans Fenster und sah hinaus in das graue Licht, das durch die tief hängenden Wolken über dem stahlblauen Atlantik drang. Die Brandung warf sich halbherzig gegen den mit Felsen übersäten Kiesstrand, der jenseits der Straße zum Meer abfiel. Einsame Möwen tauchten herab und stiegen wieder zu dem kalten,
undurchsichtigen grauen Himmel auf. Einen einsameren, verlasseneren Ausblick konnte es kaum geben.
»Es ist ganz eindeutig ein Schwindel«, flüsterte er in die Stille.
»Die Engländer wollten ihn reinlegen, ihn vielleicht erpressen
… Und wenn’s kein Schwindel war, dann hatten sie ihn vielleicht schon erpresst, und er hat mitgemacht und nutzlose Informationen geliefert.« Nickend stimmte er seinen Überlegungen zu.
»Vielleicht konnte er sogar hilfreiche Einzelheiten für seine eigenen Ziele erfahren.« Polly drehte sich auf den Rücken und legte ihre Hand über die Augen. Sie schlief noch. Kein Grund, sie schon zu wecken. Auf Zehenspitzen schlich er durch das kleine Zimmer, nahm seine Tasche und huschte durch den Gang in das unbeheizte Bad.
Während seiner kühlen Überlegungen im Morgenlicht schien ihm die Echtheit des Dokuments nicht mehr sicher, obwohl der Schock vom ersten Blick auf die Unterschrift noch nicht verflogen war, sondern ihm wie die bizarren Blitze aus unschuldigen Sommernächten seiner Kinderzeit im Gedächtnis 199
haftete. Er war außerstande, George Washingtons Verrat als Tatsache zu akzeptieren; wie war so etwas möglich? Auch der Morgen blieb ihm die Antwort schuldig.
Er ging ins Schlafzimmer zurück, um das Porträt von Winthrop Chandler und die Dokumente zu holen, die Polly sorgsam auf der Kommode arrangiert hatte. Das Gesicht der Frau nahm einen auch nach zweihundert Jahren noch gefangen.
Es kam ihm so vor, als würde sie ihn beobachten. Er wusste, dass sein Unterbewusstsein sich mit den historischen Fragen beschäftigte, welche die Papiere aufwarfen, während er bewusst versuchte, die Probleme der Gegenwart in den Griff zu bekommen.
Unten in der Küche klapperte Percy Davis auf dem Herd mit schmiedeeisernen Pfannen. Der Duft von gebratenem
Schinkenspeck durchzog verführerisch den großen Raum. Percy Davis winkte ihm mit einem Kochlöffel einen Morgengruß zu.
»Ich hab mein Frühstück und ’n Spaziergang unten am Wasser schon hinter mir«, erklärte er mit seinem kargen Lächeln. »Ich mach Ihnen ein paar Eier mit Schinken. Sagen Sie mir, wann ich loslegen soll.« Er trank eine Tasse Tee und rüttelte an dem Wasserkessel auf der hinteren Flamme. »Gut geschlafen? Keine Dummheiten gemacht?«
Seine wässrigen Augen zwinkerten kurz.
»Leider nicht, Sir. Zu müde.«
»Machen Sie Harvard keine Schande«, meinte Davis, ohne eine Miene zu verziehen.
»Davon kann keine Rede sein. Ich brauche ein Telefon.«
»Benutzen Sie das am Empfang. Kostenfrei.« Seine trockene Stimme knisterte beinahe vor Vergnügen. »Die Aufregung tut mir gut. Ich fühle mich heute großartig. Die Sache weckt viele Erinnerungen. Ein Jammer, dass Bill sterben musste … Nun ja.
Nehmen Sie das Telefon auf dem Tresen. Ich lasse den Speck langsam braten.«
»Colin Chandler – so wahr ich lebe!« Zu Colins Erleichterung 200
kam Prossers warmer Sarkasmus genüsslich über die Leitung.
Völlig normal und auf besondere Weise beruhigend. »Sie haben sich in letzter Zeit einiges geleistet. Es ist ja schön, wenn Harvard durch die Presse geht, aber nicht im Zusammenhang mit so einem Affentheater. Überall Leichen – wie im letzten Akt von Hamlet. Wie geht es Ihnen, mein Lieber? Wo sind Sie? Ich hoffe, in einem gemütlichen, sicheren Eckchen.«
»Mir geht’s ganz gut. Im Moment bin ich in Sicherheit.«
Chandler grinste heftig, während er sprach. Trotz seines distanzierten, snobistischen und eleganten Gehabes war
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