Aquila
Ich habe einen ganzen Sack solcher Redensarten für dich aufgespart
… Entweder du erhebst dich jetzt, oder ich zitiere noch mehr von meinen Weisheiten.«
»Na gut, ich steh ja schon auf.« Als er ein Auge riskierte, stand sie über ihm und reckte und streckte sich. Nicht übel, ganz und gar nicht übel. Er öffnete auch das andere Auge.
»Schnuckelig«, bemerkte er.
»Was?«
»Nichts.« Er blinzelte in den wunderbar friedlichen Frühlingsmorgen. Hinter einer lockeren Nebelbank leuchtete die Sonne in glühendem Gold. Es war wärmer, als er vermutet hätte.
Wieder durchströmte ihn das sorglose Gefühl, das er seit seinem ersten Zusammentreffen mit Polly kannte. »Und? Was machen 239
wir?«
»Ich weiß nicht, was du machst. Aber ich setze mich erst mal hintern Busch.« Schon war sie weg, während er still auf dem Rücken lag, zugedeckt von ihrem Mantel, das Schaffell bis zum Kinn hochgezogen. Frühlingsduft lag in der Luft. Der Geruch von feuchter Erde, von Gras und Bäumen ließ seine Gedanken zurückwandern in die Vergangenheit. Er erinnerte sich an seine Kindheit in der kleinen Stadt Oregon, Illinois: an die Schneeschmelze und die dünnen Eiskrusten, die wie Zuckerguss auf den Pfützen lagen, an den Cockerspaniel, der den Wechsel der Jahreszeiten ausgelassen begrüßte, als sie auf den Liberty Hill kletterten. Das alles war so lange her, und er konnte sich nicht mehr richtig an den Jungen mit dem Hund erinnern, aber die Spur der Erinnerung war da und wartete in seinem Kopf.
Man konnte sie nicht herbeizitieren; sie kam, wenn der passende Knopf gedrückt oder die richtige Leine gezogen wurde.
»Der Highway kann nicht weit weg sein«, sagte sie, als sie aus dem Föhrendickicht in das nasse Gras heraustraten, das unter ihren Füßen schmatzte, als wären sie im Moor. Ihr Ziel war der feuchte Sandweg, der über einen Hügel führte. Der Highway Nummer 1 dahinter war ein ödes, schmales graues Betonband, das sie laut Landkarte bis Ellsworth bringen würde.
Sie wussten beide, dass jemand nach ihnen Ausschau hielt.
Außerdem machten sie sich Sorgen um Prosser. Aber es gab kein Zurück: Sie hatten ihre Anweisungen. Schweigend gingen sie weiter und spürten immer stärker den Ernst ihrer Lage. Eine Stunde nach Aufbruch erreichten sie den Highway, der sich unbefahren nach beiden Seiten dahinzog. Das goldene Licht der aufgehenden Sonne verlieh ihm einen Hauch von Glanz.
»Bete, dass wir keinem roten Pinto begegnen«, sagte er, als er die Tasche an der Straßenseite nieder fallen ließ. »Wir sind hier genau in der Schusslinie.«
»Wie weit ist es nach Ellsworth?« Sie hatte ihr Haar mit den Fingern zurückgestrichen. Ihre Wangen waren erhitzt. Einmal 240
hatte er sie geküsst und wollte es gern wieder tun.
»Zu weit zum Laufen.«
»Sollen wir einfach hier warten?«
»Wir könnten uns auch auf den Weg machen.« Er nahm die Tasche. »Hör mal, die Vögel! Im Frühtau zu Berge … du weißt schon.«
Sie hakte sich bei ihm ein. Bei ihrem Marsch versuchten sie, dem Matsch am Straßenrand auszuweichen.
Nachdem zwei Autos und ein Lieferwagen an ihnen
vorbeigebraust waren, sagte sie: »Wäre jetzt nicht der passende Moment, um mir die Geschichte vom Macguffin zu erzählen?
Ich meine, wenn sie uns finden, will ich nicht sterben, ohne sie zu kennen.«
»Quatsch.«
»Und der braune Wagen? So können wir ihn kaum
zurückgeben.«
»Oje, daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht.«
»Dann erzähle mir was über den Macguffin.«
»Nein. Ich will dich nicht verwöhnen.«
»Ha!« Sie kickte einen Stein über die leere Straße. Der goldene Glanz verlor sich, als Wolken aufzogen. »Ich habe furchtbaren Hunger.«
Gegen zehn erreichten sie Rockland, wo sie an einer Tankstelle mit Raststätte Halt machten, an der ein paar Lastwagen tankten. Über die Straße zogen Nebelschwaden.
»Endlich was zu essen!« seufzte sie.
Chandler stocherte in seinen Rühreiern herum, Polly hatte sich ein Farmerfrühstück auftischen lassen, bei dem sich ihm fast der Magen umdrehte. Es war die Angst. Sie war zurückgekommen und hockte in ihm wie ein finsteres Tier, das er nicht vertreiben konnte. Sie saßen in der hintersten Nische, von wo er nach einem roten Pinto auf dem Highway Ausschau hielt und sich fragte, was er wohl tun würde, wenn er ihn erspähte. Ein Streifenwagen fuhr herein und parkte. Die beiden Polizisten 241
stiegen aus, streckten sich und polterten in die Raststätte, wo man sie gut kannte. Unter scherzhaftem
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