Aquila
Geplänkel und Gelächter wurde ihre Thermosflasche mit heißem Kaffee gefüllt.
Es hätte so ein angenehmer, ruhiger Ort sein können, so ein schönes Fleckchen für ihn und Polly. »O Gott«, flüsterte er. Ein roter Wagen … Polly schüttelte den Kopf. »Toyota«, meinte sie.
»Entspann dich.« Er lehnte sich zurück. »Sei still, mein Herz.«
Es war kein Witz: Er wusste, wie kläglich und armselig sein Lächeln ausfiel.
Als die beiden Beamten ihre kabarettistische Einlage beendet hatten und gegangen waren, nahmen die Zurückgebliebenen ihre normale wortkarge Unterhaltung wieder auf. Chandler holte sich eine zerlesene Bostoner Morgenzeitung vom Tresen, die jemand liegen gelassen hatte. Polly frühstückte immer noch. »Ich mache mir Sorgen um Ezzard.«
»Das hast du schon gesagt.«
»Weiß ich. Aber ich muss was unternehmen. Ich rufe meinen Nachbarn an.«
»Wie kommt der ins Haus?« Er suchte die Titelseite der Zeitung.
»Er hat einen Schlüssel.«
Chandler sah ruckartig auf. »Ach ja?«
»Ist ein ganz, ganz lieber Kerl.« Sie lächelte. »Er ist schwul.
Geht’s dir jetzt besser?«
»Tut mir leid …« Er ordnete die Zeitung auf dem Tisch und spürte, wie sich sein Magen unangenehm zusammenzog. Da stand es, in der rechten unteren Ecke der Titelseite: FERNSEHREPORTERIN VERMISST
IN MORDUNTERSUCHUNG VERWICKELT
Polly sah besonders attraktiv aus: blitzende Zähne, glänzende Augen, der Kopf der Kamera zugewandt.
»Wie, zum Kuckuck –«
»Wahrscheinlich hast du am Sonntagabend eine Sendung 242
verpasst. Oder sie konnten dich am Telefon nicht erreichen.«
Kopfschüttelnd folgte er den Zeilen mit dem Finger. Polly beobachtete ihn, während sie an ihrer Fingerspitze kaute. »Ja, hier steht’s: Ralph Stratton, der Chef des Senders, hat versucht, dich am Sonntag anzurufen.«
»Verdammter Wichtigtuer!«
»Dann ist er zu deiner Wohnung gefahren. Die Tür stand offen und es gab Hinweise darauf, dass jemand die Räume durchsucht hat. Bestimmt unsere kleinen Freunde …«
»Steht was über Ezzard drin?«
»Polly, irgendjemand hat deine Wohnung gefilzt! Der Kater wird nicht erwähnt, aber wenn sie ihn umgebracht hätten, hätte es in der Schlagzeile gestanden. Aber wer kann es gewesen sein?«
»McGonigle und Fennerty? Pepitahut und Begleiter? Macht wahrscheinlich keinen Unterschied, oder?«
»Ich glaube kaum. Hier heißt es, du hast bei der
Berichterstattung über die Harvard-Morde die Schlüsselrolle gespielt.« Er bedachte sie mit einem säuerlichen Blick.
»Colin, du hast was übersehen, oben auf der Seite!«
HARVARD-PROFESSOR GEFOLTERT
OPFER SCHWER VERLETZT – PEINIGER GETÖTET
Die Geschichte sah ein bisschen anders aus, als Prosser sie ihm erzählt hatte, doch für Polly, die sie mit wachsendem Erstaunen las, war alles neu. Schließlich sah sie mit weit aufgerissenen Augen auf. »Du weißt das schon von Prosser?«
»Er wollte dich nicht beunruhigen.«
Sie rollte mit den Augen. »Brennan war bei Bewusstsein. Er hat der Polizei alles erzählt; sie haben einen anonymen Hinweis bekommen. Was hat das denn mit Prosser zu tun? Das Ganze ist ziemlich seltsam.«
»Wer weiß«, erwiderte Chandler. »Er hat viele
243
Verbindungen.«
»Ich kriege das nicht ganz auf die Reihe.« Sie blätterte um bis zur Seite drei. »Hier steht was über dich, mein Schatz …
WO IST PROFESSOR CHANDLER?
Es heißt hier, der Fakultätsvorstand Bertram Prosser sei unerreichbar. Als Nächstes werden sie sich fragen, ob Harvard so viel geistigen Verlust verkraften kann: Chandler, Prosser, Brennan.«
Sie trank ihren Kaffee aus und sah lebhaft um sich. »Vor ein paar Tagen wäre das alles unglaublich gewesen …«
»Ist es noch. Mein Leben ist immer noch in Gefahr, Prosser ist vielleicht schon tot, Hugh kann jeden Augenblick sterben, nach dem, was die blöde Zeitung schreibt. Und wir wandern absolut schutzlos die Küste von Maine entlang und versuchen, nach Bar Harbor zu kommen. Es ist unglaublich. Und das Unglaublichste ist, dass ich keinen Nervenzusammenbruch gekriegt habe.« Er tippte auf die Zeitung. »Unsere Bilder sind in den Zeitungen.
Jesus, man könnte uns jeden Moment erkennen!«
»Na und?« meinte sie ruhig. »Wir werden nicht polizeilich gesucht. Es ist nicht wie bei Cary Grant in Der unsichtbare Dritte. Wir laufen bloß ein bisschen weg. Wenn uns jemand sieht, sagt er vielleicht, hallo, ihr beiden, ich kenne euch. Was sollen sie sonst tun? Das Schreckliche an der Sache sind die Leute, die uns
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