Arabiens Stunde der Wahrheit
erzeugen.« Dieser »Scheitan« müsse allgegenwärtig sein. Reporter, die ihn niemals zu Gesicht bekamen, verfassen ganze Bücher über diesen Erlkönig und seine Schattenarmee.
Die Uhr zeigt Mitternacht an. Hassan Turabi verabschiedet sich mit groÃer Herzlichkeit. Mein Begleiter Ibrahim es-Zayat schweigt während der Rückfahrt zu unserer Karawanserei. Obwohl er bei derägyptischen Polizei und dem deutschen Verfassungsschutz als radikaler Islamist eingestuft ist, habe ich ihn als liberalen und weltoffenen Geist kennengelernt. Wie weit der »Docteur« Turabi sich in die Rolle des sunnitischen Reformers vorgewagt hat und den »Ijtihad« in den Dienst der Ratio stellen möchte, ist ihm wohl erst während dessen endlosem Monolog bewuÃt geworden.
In vier Stunden wird der Muezzin die Gläubigen zum ersten Morgengebet wecken und sie warnen vor den Umtrieben des »gesteinigten Teufels â el sheitan el rajim«, der in der Finsternis sein Unwesen treibt. Wie ähnlich klingt es doch im Completorium, im feierlichen gregorianischen Nachtgesang der katholischen Kirche: »Brüder, seid nüchtern und wachsam«, so sangen wir einst in der Kollegiumskirche von Saint-Michel, »denn Euer Gegner, der Teufel, geht umher und sucht, wen er verschlingen könnte â quaerens quem devoret.« Ich erinnere mich selten an meine Träume, aber in jener Nacht, bevor ich im Tiefschlaf versinke, erscheint mir noch einmal das bärtige Antlitz des Scheikh Turabi. Die Konturen seines Kopfes lösen sich auf, und es bleibt nur noch â wie bei der Cheshire-Katze von »Alice in Wonderland« â das unentwegte, rätselhafte Lächeln übrig.
Sahel
Mohammeds schwarze Diener
Churchill als Kriegsreporter
Omdurman, April 2010
Manchermag einwenden, wir würden uns zu ausführlich mit den Problemen der Republik von Khartum beschäftigen. Aber dieses riesige Territorium â fünfmal so groà wie Frankreich â ist ja nur der östliche Teil jenes kontinentalen Sahel-Gürtels, der Afrika südlich der Sahara vom Atlantik bis zum Roten Meer umspannt. Die Vielzahl postkolonialer Staaten, die sich dort aneinanderreihen, weisen gemeinsame Wesenszüge auf, seien sie nun geographischer, politischer, religiöser oder wirtschaftlicher Art. Wer interessiert sich schon in Europa für diese immense Region? Doch der Sahel-Gürtel â anders gesagt, der Sudan â liegt näher an unserem Kontinent als die Hochgebirge und Wüsten Zentralasiens am Hindukusch und am Pamir, wo heute angeblich Deutschland verteidigt wird. Wer hätte vor zwanzig Jahren, als die Sowjetunion AfghaniÂstan räumen muÃte, auch nur im Traum daran gedacht, daà die Bundeswehr so bald die Nachfolge der russischen Okkupanten antreten würde?
Als ich im Jahr 1996 ein Buch veröffentlichte unter dem Titel Das Schlachtfeld der Zukunft und dort auf den Hindukusch und den Pamir verwies, kommentierte man diese Voraussicht mit spöttischer Skepsis. Fünf Jahre später traten die USA zum Blitzfeldzug an, um dieVernichtung des World Trade Center zu rächen und die Gespensterarmee von El Qaida in ihren fernsten Schlupfwinkeln auszulöschen. Unter den seitdem kursierenden Verschwörungstheorien leiden wir noch heute.
Die Unkenntnis der Psychologie und Geschichte jener exotischen Völker, die Amerika zu unterwerfen sich vorgenommen hatte, trug entscheidend zum Fehlschlag der Feldzüge bei, auf die es sich in Vietnam, im Irak, in Afghanistan einlieÃ. Zwei schmale Meerengen â vor Gibraltar und vor Sizilien â trennen den Süden unseres Kontinents von Afrika, und wenn wir uns in dieser Betrachtung zwangsläufig mit dem Maghreb befassen, sollten wir nicht aus den Augen verlieren, daà in Algerien dreiÃig Jahre nach der Unabhängigkeit ein Bürgerkrieg tobte, der etwa 200000 Opfer forderte und längst nicht ausgestanden ist.
Die Volksrepublik Algerien ragt auf Grund der willkürlichen Grenzziehung der ehemaligen französischen Kolonialmacht mit ihrer äuÃersten Südspitze jenseits der Oase Tamanrasset bis in die Sahelzone hinein, die zur Zeit der gallischen Präsenz »Soudan français« genannt wurde. Algerien â das sei hier am Rande vermerkt â befindet sich seit Ausbruch des Befreiungskrieges gegen Frankreich im November 1954 in einem tückischen Zustand der
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