Arabiens Stunde der Wahrheit
Christen und Juden speziell auferlegte Kopfsteuer, die »Jiziyat«, war zunächst weniger erdrückend als die fiskalischen Auflagen Ost-Roms.
Schon sehr früh müssen massenhafte und freiwillige Bekehrungen zur Lehre Mohammeds stattgefunden haben. Diese friedliche Koexistenz der »Familie des Buches« dürfte jedoch nach der Konsolidierung der arabischen Führung schrittweise geschrumpft sein. Von Gleichberechtigung mit Christen und Juden konnte nun nicht mehr die Rede sein. Periodisch fanden sogar Pogrome gegen diese abrahamitischen Schriftbesitzer statt. Immerhin blieb das Niltal im gesamten Nordafrika, das zu Zeiten des byzantinischen Kaisers ÂJustinianI. zum Christentum bekehrt worden war, die einzige Region, in der die Religion des Nazareners nicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurde.
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Der Aufruhr am Tahrir-Platz, der übrigens nur in Alexandria und Suez nennenswerten Widerhall fand, wurde von vielen Beobachtern als Zeitenwende gepriesen. Bisher war es üblich, daà die empörten arabischen Massen, wenn sie sich wirklich einmal zu Kundgebungen zusammenfanden, amerikanische und israelische Flaggen verbrannten und mit dem üblichen Kampfruf »Allahu akbar« antraten. Daà diese xenophobe und religiöse Grundstimmung jetzt nicht den Ausschlag gab, sondern daà die Forderung nach Regimewechsel und vor allem nach Verurteilung des Präsidenten Mubarak und seiner Schergen im Namen der Menschenrechte, der freien MeinungsäuÃerung, uneingeschränkter Parteiengründung, kurzum im Namen der »Freiheit«, vorgetragen wurde, erschien als sensationeller Umschwung in Richtung Säkularisierung, zumal die Muslime sich brüderlich gegenüber den koptischen Christen verhielten. Schon fragten sich die Optimisten, ob die Welle der koranischen, der salafistischen Rückbesinnung endlich ihren Höhepunkt überschritten hätte und den Weg freigeben würde für eine Staatsdoktrin, die in so manchem Punkt mit der westlichen Demokratievorstellung übereinstimmt. Hatte der Geist der Aufklärung endlich auf Teile der arabischen Nachbarn am Südrand des Mittelmeers übergegriffen?
An gewalttätigen Machtwechseln, an Putschen hat es in der islamischen Welt niemals gefehlt. Aber die treibende Kraft zu solchen Revolutionen waren stets kleine Gruppen von Offizieren, die sich bald um einen autoritären »Rais« scharten. In anderen Fällen handelte es sich um sektiererische Erneuerungsbewegungen des Islam, wie sie bereits Ibn Khaldun im vierzehnten Jahrhundert beschrieben hatte. An der Spitze befand sich in der Regel ein gottgesandter »Mahdi«, ein Befehlshaber der Gläubigen, der sich auf die krieÂgerische Kraft frommer Stammesstrukturen stützte. Vergeblich hattendie Experten am Tahrir-Platz nach religiös motivierten Aufrührern Ausschau gehalten. Die Verwunderung war groÃ, als die im ganzen Niltal mit Millionen Anhängern vertretene Organisation der Muslimbrüder zwar Sympathie mit den zornigen jungen Leuten von Tahrir bekundete, von einer aktiven Teilnahme an diesem Tumult jedoch Abstand nahm.
Bis zum »Arabischen Frühling« von Kairo hatte â mit wenigen Ausnahmen â die Regel gegolten, daà ein despotisches Regime, solange es über die Loyalität von Armee und Geheimdiensten oder eine starke tribale Solidarität verfügte, eine quasi unerschütterliche Machtposition behaupten konnte, zumal die Unterdrücker neuerdings über perfektionierte Repressions- und Erkundungsmittel verfügten. Es sei denn, der Tyrannenmord böte sich als letzter Ausweg an, wie das bei Anwar es-Sadat in Ãgypten, bei Ceaus¸escu in Rumänien, bei Präsident Daoud in Afghanistan der Fall gewesen war, um nur diese Beispiele zu erwähnen. Doch seit Beginn des elektronischen Zeitalters und der digitalen Kommunikationssysteme hatten sich auch für den verschwörerischen Untergrund völlig neue Methoden entwickelt. Die Ãberwachung durch die allgegenwärtigen »Mukhabarat« konnte angeblich schachmatt gesetzt werden durch Internet, Twitter, Facebook und wie die diversen sich ständig überbietenden Formen einer unmittelbaren Kontaktaufnahme heiÃen mögen. Das Aufspüren durch die Sicherheitsdienste lief hier ins Leere. Hinzu kam die Bevölkerungsexplosion in den meisten orientalischen Ländern, wo die rebellische Jugend unter dreiÃig Jahren mehr als ein Drittel der
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