Arabische Nächte
zog es sie hinaus in die frische Luft. Sie hatte gehofft, die klare Kälte würde die Dumpfheit aus ihrem Kopf vertreiben, die zu ihrer Stimmung passte. Bis jetzt hatte es nichts genützt.
Am Abend zuvor hatten Maskenspieler Einlass begehrt, da ihnen zu Ohren gekommen war, auf Croesus Hall gäbe es Speis und Trank in Hülle und Fülle. Die ungebetenen Gäste tanzten und sangen, und führten einen derben Schwank um ein komisches Paar auf, das in die Auseinandersetzungen zwischen Napoleon und Nelson gerät - und höchst unpassend vom heiligen Georg gerettet wird. Das Stück hatte sie wider Willen sehr zum Lachen gereizt; doch als dann der Festpunsch ausgeschenkt wurde, gelang es ihr auch nicht für einen Moment, die böse Vorahnung abzuschütteln, dass mit jedem Ticken der Kaminuhr das Verhängnis unaufhaltsam näher rückte.
Obschon niemand offen davon sprach, war allen, die sich unter ihrem Dach zusammenfanden, die Abwesenheit Lord Devlyn Sinclairs, des rechtmäßigen Herrn von Croesus Hall, deutlich bewusst.
Japonica schloss schaudernd die Augen, als ein plötzlicher Windstoß Schnee aufwirbelte, sodass sich Flocken in Haar und Wimpern verfingen. Devlyn war für immer fort. Trotz ihres Kummers und der Ungewissheit, die sie in den vor ihr liegenden Tagen erwartete, konnte sie dafür dankbar sein. Es wurde ihr damit erspart, ihm ins Gesicht zu sehen, wenn er, was unvermeidlich war, von dem Sohn erfuhr, den sie vor ihm zu verbergen getrachtet hatte. Bis dahin würde sie schon längst abgereist sein.
Eine niedergeschlagene Laurel war am Abend vor Weihnachten in Gesellschaft Mr. Simmons' erschienen, der sofort wieder nach London fuhr, um mit seiner besseren Hälfte die Feiertage zu verbringen. Laurel hatte kein Wort darüber verloren, wo sie gewesen war, oder mit wem sie gesprochen hatte. Sie begab sich umgehend auf ihr Zimmer, wo sie bis zum Morgen des Christtages blieb. Sie war mit ihren Schwestern zum Frühstück heruntergekommen und hatte mit großen Augen dagesessen, als ihr Geschenk von Japonica ausgepackt wurde und es sich zeigte, dass es der Blumenhut war, den sie in Madame Sotis Schaufenster bewundert hatte. Uberraschend für alle stolperte sie schnurstracks unter Tränen hinaus.
Nach dem Frühstück besuchten sechs überaus ernste Abbott-Damen den Festgottesdienst. Sträuße aus Stechpalmen und Eibenzweigen, mit roten Bändern gebunden, schmückten die Bänke und verwandelten die Kirche in einen Miniaturwald. Für eine einzige, wenn auch kleine, Aufregung sorgte Alyssum, die sich von der Shrewsbury-Bank erhob, um beim Gesang die Führung zu übernehmen. Ihr klarer Sopran schwebte glockenhell über dem allgemeinen Chor. Und die ganze Gemeinde konnte ihre Wirkung auf den Geistlichen beobachten, der sie anstarrte wie die verkörperte Christtagsfreude.
Beim Dinner, zu dem man den Vikar eingeladen hatte, waren die beiden so innig in ihre Zweisamkeit vertieft, dass Japonica bezweifelte, ob sie etwas von den Tischgesprächen mitbekamen. Dass sich hier vielleicht eine Verbindung ohne den strengen Verhaltenskodex der Londoner Gesellschaft anbahnte, hatte sie mit gedämpfter Befriedigung erfüllt.
Japonica blinzelte Tränen sowie geschmolzene Schneeflocken fort. Sie war einmal so töricht gewesen, sich ein abenteuerliches Leben zu wünschen. Nun, dieses Jahr hatte ihren Wunsch überreich erfüllt. Glück und Kummer, Trauer und Freude waren dabei so eng verquickt, dass sie vermutlich das eine vom anderen nie würde trennen können. Doch das alles lag hinter ihr.
Das Herz war ihr auch deshalb schwer, weil sie von Aggie nichts gehört hatte, seit sie ihr den Brief und den Scheck geschickt hatte für die Fahrt nach London. Aber vielleicht lag das ja nur am Winterwetter. Seit dam ersten Briefschwung war fast täglich ein Bericht gekommen. Der letzte, der sie bei ihrer Rückkehr nach Croesus Hall erwartete, trug ein Datum, das anzeigte, dass ihr eigener Brief noch nicht in Lissabon eingetroffen sein konnte. War bis Neujahr jedoch keine Antwort da, würde sie sich einfach selbst auf die Reise machen.
Erst am Abend zuvor hatte sie überlegt, dass sie gar nicht unglücklich über die drohende Verbannung aus der Londoner Gesellschaft war. Sie hatte es sich nicht eingestehen wollen, dass ihre Angst vor Ablehnung der Aristokratie durch ihren Stolz und dem Verlangen dazuzugehören geweckt worden war. Seit sie das Kleid bei Madame Soti anprobiert hatte, wünschte sie sich Dinge, die ihr vorher nie wichtig erschienen waren.
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