ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
vorübergehender Gestaltwandler. Um ihr überallhin zu folgen, nahm er die Gestalt einer Krähe oder eines Eichhörnchens an. Doch welche Erscheinung er auch annahm, sie erkannte ihn stets.«
Wolfs Blick wurde reserviert. »Ach wirklich?«
Aralorn sah ihn stirnrunzelnd an. »Hier geht es nicht um dich und mich – und du hättest mich auch schon beim ersten Mal gefunden, wenn du nach jemand Ausschau gehalten hättest, der nicht so aussah wie ich.«
Er wandte seinen Blick ab. Sie beschloss, ihn nicht weiter zu beachten, und fuhr mit ihrer Geschichte fort.
»Es entging ihr auch nicht, als er sich in sie verliebte. Und da er imstande war, seine Gefühle abzuschirmen, hielt sie es aus. Wann immer die Dorfbewohner fortan zu ihrem Haus kamen, war er ihr unsichtbarer Wächter. Sie liebte ihn und war glücklich.
Einmal im Monat kehrte der Gestaltwandler in sein eigenes Dorf zurück, um seine Leute wissen zu lassen, dass es ihm gut ging. Sie waren dort nicht eben glücklich über seine Wahl, und eines Tages beschloss seine Mutter, das Problem selbst in die Hand zu nehmen. Sie sorgte dafür, dass ein Sklavenhändler aus dem Süden auf das Mädchen aufmerksam wurde und es das nächste Mal, als der Gestaltwandler seine Geliebte allein ließ, um zu seinem Dorf zu reisen, mitnahm. Als er wieder zurückkam, schwang die Türe im Wind, und das Haus seiner Angebeteten war leer.
Der Händler war auf der Hut, und als er vernahm, dass sie einen der Magie mächtigen Geliebten hatte, brachte er sie in die Nordlande hinauf, wo Magie nicht gehorchte. Allerdings war ihr Geliebter kein Menschenmagier, und er fand sie – zu spät.«
In dem Moment hallte ein klagendes Geräusch durch die Höhlen. Wolf neigte leicht seinen Kopf. Offenbar hatte er es ebenfalls gehört.
»Als der Gestaltwandler am Lager der Sklavenjäger eintraf«, fuhr sie fort, »war von den Entführern nicht viel mehr übrig als hirnlose Körper. Das Mädchen, verängstigt und allein, hatte die einzige Verteidigung heraufbeschworen, die ein Empath besaß: Sie hatte ihr Grauen und ihren Schmerz auf ihre Peiniger übertragen. Sie war am Leben, als der Gestaltwandler sie fand, und er trug sie zu einer bei den Seinen als heilig geltenden Höhle, wo er versuchte, sie zu heilen. Die schlimmsten Wunden, die sie davongetragen hatte, waren die an ihrem Geist, Wunden, die auch die Magie eines Gestaltwandlers nicht zu erreichen vermochte. Und obwohl sie körperlich nahezu unversehrt war, sprach sie zu ihm kein einziges Wort, starrte durch ihn hindurch, als wäre er Luft. In seinem übermächtigen Kummer schwor der Gestaltwandler, sie so lange am Leben zu erhalten, bis er einen Weg gefunden hatte, ihre Seele zu heilen. Und so lebte er fort, ein alter, alter Mann, der von jenem Tag an bis heute seine Liebste behütet – und das ist die Geschichte vom Alten Manne vom Berge.«
Das Klagen ebbte ab zu einem stockenden Seufzen, das durch die Bibliothek raunte und zu Stille zerrann.
Wolf sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. »Ich hab noch nie von einem Gestaltwandler von solcher Macht gehört, wie sie dem Alten Mann nachgesagt wird.«
Aralorn rieb sich nachdenklich das Kinn und hinterließ dort eine schwarze Schmutzspur. Es war eigentlich ein Geheimnis – aber sie mochte vor Wolf keine Geheimnisse haben. »Je älter ein Gestaltwandler ist, umso mächtiger ist er. Wie bei Menschenmagiern ist es für einen Gestaltwandler nicht ungewöhnlich, wenn er mehrere Hundert Jahre lang lebt. Ein wirklich mächtiger Gestaltwandler kann sich selbst beständig verjüngen und wird niemals alt. Der einzige Grund, weshalb man nie einen mehr als einige Hundert Jahre alten Gestaltwandler sieht, ist der, dass sie sich immerfort zu etwas Neuem und Schwierigerem verändern. Man vergisst schnell sein menschliches Erscheinungsbild, wenn man sich in einen Baum oder in den Wind verwandelt. Ein Onkel meiner Mutter hat mir mal erzählt, es komme mitunter vor, dass ein Gestaltwandler sogar vergisst, sich das, zu dem er sich verändern will, vorzustellen, und sich dann in Nichts verwandelt. Es gibt keinen Grund, warum unser Alter Mann vom Berge nicht mehrere Tausend anstatt nur einige Hundert Jahre alt sein sollte. In dem Falle wäre er sagenhaft mächtig.«
Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. »Wolf, da war doch dieser Schneesturm in der Nacht, bevor die Uriah gekommen sind. Wenn sie wegen ihm nicht so langsam geworden wären, hätten sie uns in jener Nacht überrannt und das ganze Lager
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