ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
Kinder zu fressen. Ich würd mich auf aufgeblasene Dummköpfe spezialisieren, die auf ihrem fetten Hintern hocken und meinen, zu Dingen, von denen sie keine Ahnung haben, unbedingt ihren Senf geben zu müssen.«
»Ich auch«, pflichtete Wolf ihr ohne aufzublicken bei. Offenkundig war sein Lesestoff um einiges interessanter als ihrer, denn seine Grantigkeit hatte sich merklich gelegt. »Hast du jemand Bestimmtes im Auge?«
»Ich glaube, sie ist schon seit … Jahrhunderten tot.«
»Ah«, erwiderte er und blätterte eine Seite um. »Ich esse nichts, was schon zu lange tot ist. Schlecht für die Verdauung, selbst bei einem Wolf.«
Sie kicherte und las weiter. Aralorn erfuhr, dass Gestaltwandler nur durch Silber, Knoblauch oder Eisenhut getötet werden konnten. »Und ich mach mir Sorgen wegen Armbrustbolzen, Schwertern und Messern«, sagte sie zu Wolf. »Ich Dummerchen. Höchste Zeit, meinen Dolch mit Silbergriff auszumustern – wenn ich sein Heft berühre, bin ich so gut wie erledigt.«
Er grunzte.
Die Urheberin ihres Buches unterlag außerdem der irrigen Auffassung, dass Gestaltwandler lediglich in der Lage waren, die Gestalt von nur einem einzigen Tier anzunehmen. Sie widmete einen ganzen Abschnitt haarsträubenden Schauergeschichten über Gestaltwandler-Wölfe, -Löwen und -Bären. Mäuse, so vermutete Aralorn, waren ihr wohl zu banal. Was verständlich war, denn sie fraßen ja auch keine kleinen Kinder …
Das eine oder andere interessante Detail der besseren Wolfsgeschichten teilte sie Wolf mit, während dieser sich durch einen Band über Schweinedressur quälte. Er revanchierte sich dafür, indem er sie an dem Wissen teilhaben ließ, wie man einer Sau das Zählen beibrachte und das Öffnen von Toren und Apportieren. Außerdem waren Schweine außerordentlich nützlich, wenn es um die Vorhersage von Erdbeben ging. Dankenswerterweise hatte Iveress drei Zauber beigefügt, um Erdbeben zu entfesseln.
Aralorn lachte und wandte sich wieder ihrer Lektüre zu. Am Ende des Buches hatte die Verfasserin zur reinen Erbauung des Lesers Geschichten angehängt, »die sich aufgrund meiner Recherchen als bloße Volkssagen herausgestellt haben«. Nachdem sie die ersten paar überflogen hatte, kam Aralorn zu dem Schluss, dass die Verfasserin den Wahrheitsgehalt einer Geschichte allein daran festmachte, ob in ihr die Gestaltwandler als üble Bösewichte dargestellt wurden oder nicht. Die meisten der Erzählungen hatte sie irgendwo schon mal gehört. Die meisten, aber nicht alle.
Der Vollständigkeit halber las sie auch noch die letzte Geschichte, klappte das Buch dann zu und ließ ihren Blick nachdenklich durch den Raum schweifen. Nichts, was sich nicht bewegen sollte, rührte sich. Wolf hatte inzwischen sein Schweinebuch beiseite gelegt und schaute soeben einen Stapel neben seinem Stuhl durch.
»Vor langer Zeit, zwischen dem Gestern und Heute, da lebte einmal eine Frau, die in ihrer Jugend von einem Zauberer verwünscht worden war, weil sie über sein kahles Haupt gelacht hatte.« Sie brauchte das Buch nicht als Erinnerungsstütze, behielt stattdessen Wolf aufmerksam im Auge. »Sie war verheiratet, und ihr erstgeborenes Kind kam tot zur Welt. Ihr Mann starb bei einem Unfall, zur gleichen Zeit, als sie ein zweites Kind, eine Tochter, gebar. Als diese drei Jahre alt war, wurde für jedermann offenbar, dass auf dem zweiten Kind ein Fluch lastete, der schlimmer noch war als der Tod – sie war eine Empathin. Auf diese Entdeckung hin brachte ihre Mutter sich um.«
»Wie unsinnig«, murmelte Wolf, während er ein Buch aus dem Stapel fischte und es vor sich auf den Tisch legte. Indessen machte er keine Anstalten, es zu öffnen. »Du an ihrer Stelle hättest dich auf die Jagd nach dem Zauberer gemacht.«
Aralorn hob eine Augenbraue und sagte kühl: »Ich bin noch nicht fertig.«
Er lächelte und hob beschwichtigend die Hände. »Nichts für ungut, Geschichtenerzählerin.«
»Das kleine Mädchen kam in ein Haus außerhalb des Dorfs, und die Dorfbewohner kümmerten sich um es, so gut sie vermochten. Die empathische Veranlagung des Mädchens hatte zur Folge, dass niemand ihr allzu nahe kommen konnte, ohne ihr dadurch Schmerzen zu bereiten.«
»Ich dachte, dein Buch handelt von Gestaltwandlern«, sagte Wolf, als Aralorn eine längere Kunstpause einlegte.
Sie nickte. »Sie wurde älter und eignete sich Wissen über die Kräuter im Wald an, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestritt. Als sie sechzehn war, sah sie ein
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