ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
Frage direkt an den nicht zu entdeckenden Mann. »Wer bist du?«
»Schon besser«, sagte die Stimme. Dann folgte der unverwechselbare, stets mit Teleportation einhergehende Knall des sich mit Luft füllenden Vakuums.
»Er ist weg«, konstatierte Wolf.
»Was meinst du?«, fragte Aralorn. Sie lehnte sich wieder an Wolfs Brust. Ihre Stimme war vom Weinen ganz heiser. »War das unser Freund, der uns bei den Büchern und meiner Heilung geholfen hat.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier ein unbegrenztes Angebot an Unsichtbaren gibt.«
Wolf war sich darüber im Klaren, dass er sich eigentlich mehr Sorgen machen sollte, aber plötzlich war ihm bewusst geworden, dass Aralorn unter ihrer Decke splitternackt war. Bis eben hatte ihn das überhaupt nicht tangiert.
Er begann sie von sich zu schieben, mit dem Ziel, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihr zu bringen. Doch kaum berührten seine Hände die Decke über ihren Hüften, da wollte er sie, anstatt sie wegzudrücken, nur noch an sich ziehen.
Irritiert bekam er nur noch den Schluss von Aralorns Frage mit. »Was hast du gesagt?«
»Ich hab gefragt, wie lange du mich in der Bibliothek allein gelassen hast.«
»Höchstens fünfzehn Minuten. Eher weniger.«
Sie machte ein erstauntes Geräusch. »Ich hab noch nie von jemandem gehört, der imstande wäre, so schnell zu heilen. Kein Wunder, dass ich mich wie ein vier Wochen altes Baby fühle. Eigentlich sollte ich im Koma liegen.«
»Ja, beeindruckend«, pflichtete Wolf ihr bei.
Aralorn nickte. »Schon eigenartig bei einer so jugendlichen Stimme, aber er klang reichlich mürrisch, wenn nicht gar ein bisschen senil.« Sie schloss ihre Augen, und er brachte es nicht über sich, sie von sich zu schieben. Mehr schlafend als wachend murmelte sie mit einem Anflug ihrer unstillbaren Neugier: »Ich frag mich, wer Lys wohl ist.«
Als Wolf keinerlei Anstalten machte, etwas hinzuzufügen oder ihre Frage zu beantworten, glitt sie hinüber in den Schlaf.
Wolf hielt sie schützend im Arm. Dachte über Gestaltwandler, Kinder und Flüchtlinge nach, die mit schlafwandlerischer Sicherheit ihren Weg in Myrs Lager fanden. Und erinnerte sich an des ae’Magis halb wahnsinnigen Sohn, der in diese Höhlen kam, um eines Nachts Trost zu empfangen, geleitet von einem kleinen Graufuchs mit immerjungen, meergrünen Augen.
9
Von ihrer Position auf dem Sofa aus sah Aralorn zu, wie Wolf eine weitere Armladung Bücher auf dem Boden neben dem Arbeitstisch deponierte. Der Tisch, ihr Stuhl und der größte Teil der restlichen Bodenfläche waren in ähnlicher Weise dekoriert. Seit sie erwacht war, hatte er schweigend Bücher herumgeschleppt, noch weit weniger mitteilsam als sonst. Er trug zwar seine Maske nicht, aber angesichts seiner wie versteinert wirkenden Miene hätte es keinen Unterschied gemacht.
»Hast du dir noch irgendwelche weiteren Gedanken über unseren unsichtbaren Freund gemacht?«, fragte sie, nur um ihn aus der Reserve zu locken. In der vergangenen Nacht hatten sie sich stundenlang den Kopf zermartert und Vermutungen angestellt. Wobei Wolf ihr überdies einen zehnminütigen Vortrag darüber gehalten hatte, dass echte Unsichtbarkeit ein Mythos sei und aus vielerlei Gründen, welche auf über Jahrhunderte hinweg entwickelten Theorien basierten, mittels Magie nicht zu erreichen.
Sie wollte von ihm hier und jetzt gar keine Antwort; was sie wollte, war eine Reaktion. Irgendeine Bestätigung, dass er sich ihrer Anwesenheit bewusst war.
Er grunzte, ohne auch nur in ihre Richtung zu sehen, und verschwand wieder zwischen den Regalen.
Vielleicht hätte sie wegen ihres unsichtbaren – denn nichts anderes war er faktisch, ganz gleich, was Wolf auch behauptete – Besuchers beunruhigter sein sollen. Aber wer immer er auch war, er hatte nichts gegen sie unternommen; ganz im Gegenteil. Wenn ihr Besucher Böses im Schilde führte, hätte er reichlich Gelegenheit dazu gehabt. Schließlich waren dies die Nordlande, in denen alle möglichen seltsamen Dinge geschahen.
Nein, es war Wolf, der ihr Sorgen machte.
Noch niemals hatte er sie so nah an sich herangelassen wie in der vergangenen Nacht. Aber immer, wenn er sich ihr einmal ein bisschen geöffnet hatte, die Barriere, die ihn von ihr, von allen trennte, ein Stück heruntergelassen hatte, war er plötzlich auf Wochen oder Monate verschwunden. Sie nahm an, dass seine Distanziertheit an diesem Morgen der Beginn eines neuerlichen Rückzugs war.
Nachdem sie die ganz eigene
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