ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
Armeen, gedungen von Kaufleuten, um ihre Güterkarawanen zu schützen, Söldner aus dem ganzen Lande an. Bald schon suchten alle, die Söldnertruppen zusammenstellen wollten, zuallererst in Sianim. Und nach und nach wurde das Söldnerwesen zum Dreh- und Angelpunkt des Ortes. Eine Akademie der Kriegskünste wurde gegründet, und am Ende war aus Sianim eine Stadt von Berufskriegern geworden.
Die Söldner von Sianim galten gemeinhin als die besten Kämpfer der Welt. Abgesehen von der Militärschule in Jetaine, die in ihren Hallen indes keine Männer zuließ, besaß Sianim nur wenig Konkurrenz. Außer den eigenen Söldnertruppen bildete Sianim zudem gegen entsprechende klingende Münze Recken für verschiedene Königreiche und Fürstentümer aus. Die Elitegarden der meisten Herrscher hatten ihr Handwerk in Sianims Kämpferschmiede gelernt.
Da Politik und Krieg nun einmal Hand in Hand gingen, verfügte Sianim auch über ein Spionagenetzwerk, das einen Außenstehenden gelinde gesagt in Erstaunen versetzt hätte. Es wurde von einem schmächtigen, kleinwüchsigen Gelehrten geführt. Und zu dessen bescheidenem Amtszimmer, tief im Kaninchenbau – dem hintersten Teil des Regierungsgebäudes im Stadtzentrum –, begab Aralorn sich auf direktem Wege, nachdem Schimmer im Stall untergebracht war.
Jemand musste so schnell wie möglich erfahren, welche Gefahr von diesem Geoffrey ae’Magi ausging.
Verwinkelte Stiegen und enge Durchgänge verbanden zahllose kleine Stuben von Schreiberlingen, wie sie unabdingbar waren für eine gewinnbringende Stadtverwaltung: Abgaben und Lizenzen und so weiter und so fort. Und verborgen am unteren Ende einer Treppe, hinter einer abgenutzten Tür, die sich nichtsdestotrotz lautlos öffnen und fest zusperren ließ, befand sich ein großer und luftiger Raum mit einem Fenster – Aralorn war nie dahintergekommen, welches Fenster es von außen gesehen war. Und in diesem Raum saß der Mann, dessen Finger eingetaucht waren in den Brunnen der Gerüchte und politischen Entscheidungen, welche die Geschicke der Welt lenkten.
Ohne anzuklopfen schlüpfte sie durch die Tür – wenn der Meisterspion nicht hätte gestört werden wollen, wäre sie verriegelt gewesen. Sie schloss die Tür hinter sich, setzte sich auf eine schäbig aussehende Sitzbank und wartete geduldig, dass Ren, halb liebevoll »Maus« genannt, ihr seine Beachtung schenkte.
Er hatte sich auf seinem abgenutzten, doch stabilen Arbeitstisch niedergelassen, den Rücken gegen eines seiner Bücherregale gelehnt, und las laut aus einer Gedichtsammlung von Thyre. Er war nur wenig älter als Aralorn, aber er wirkte, als hätte man ihn zum Trocknen rausgehängt und vergessen, wieder hereinzuholen.
Sein Haar war dahingeschwunden und ausgedünnt, sodass es die Kopfhaut darunter nicht länger verdeckte. Seine Hände waren tintenbefleckt und zart und ohne Schwielen – obwohl Aralorn wusste, dass er ein ausgezeichneter Schwertkämpfer war und vor seiner Zeit in Sianim seinen Lebensunterhalt als Duellant in verschiedenen Allianz-Städten bestritten hatte. Das Einzige, was diesen harmlosen Eindruck störte, waren seine scharfen Augen, doch die konnte Aralorn in diesem Moment, da er seine Aufmerksamkeit auf seine Lektüre richtete, nicht sehen.
Thyre zählte nicht gerade zu ihren Lieblingspoeten; für ihren Geschmack setzte er zu sehr auf die Reime. Im Normalfall hätte sie sich jetzt ein Buch aus Rens beeindruckender Bibliothek gefischt und gelesen, bis er es für an der Zeit hielt, sie zu befragen; aber heute saß sie einfach nur da, lauschte den Worten, streckte sich schließlich auf der gepolsterten Bank aus und schloss ihre Augen. Da Thyre notorisch zur Weitschweifigkeit neigte, hatte sie reichlich Zeit, ein bisschen zu ruhen.
Als Ren fertig war, schlummerte sie friedlich und sanft. Erst das leise Geräusch, als der Meisterspion das Buch ins Regal schob, ließ sie wieder aufspringen. Er reichte ihr ein Glas, das er mit der Flüssigkeit aus der Flasche auf seinem Arbeitstisch füllte.
Aralorn nahm es und nippte vorsichtig daran. Flaschen auf Rens Tisch konnten alles Mögliche enthalten, von Wasser bis hin zu Wyth, unter Kennern auch als Drachentöter bekannt. Dieses Mal war es Fehltaschnaps, ein nur leicht alkoholisches Getränk, trotzdem stellte sie das Glas auf dem Arbeitstisch ab. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass es eine ganze Weile dauern würde, bis sie wieder etwas zu sich nehmen konnte, das ihre Gedanken zu vernebeln vermochte. Sie setzte
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