ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
tüchtiger Dieb gewesen sein, und zweifellos gab es hier und dort einige Amtsrichter, die nach ihm suchten. Sie dürften ihre wahre Freude mit ihm gehabt haben.
Wenn es Zeit fürs Latrinengraben, Nähen oder Jagen war, hütete Aralorn die Kinder. Es war schön, ein williges Publikum zu haben, das jedes Wort, das ihren Mund verließ, vorbehaltlos glaubte – zumindest für eine Weile. Dafür Sorge zu tragen, dass die durchtriebenen, mit Magie bewaffneten Teufelsbraten keine Dummheiten machten, hielt sie davon ab, allzu unruhig zu werden, während Wolf fort war. Und es rettete sie auch vor dem Latrinendienst.
Zwei Nächte später schlug der Sturm ohne Vorwarnung zu. Binnen Augenblicken sank die Temperatur unter den Gefrierpunkt. Da sie nach wie vor an Wolfs Lagerplatz und ohne ein schützendes Zeltdach über dem Kopf schlief, erwachte Aralorn bei den ersten herabfallenden Flocken. Instinkte, die sie in vielen Jahren des Kampierens unter freiem Himmel entwickelt hatte, ließen sie ihre Decken zusammenklauben, noch ehe sie richtig wach war. Nichtsdestotrotz war, als sie von Wolfs Schlafplatz zum Hauptlager aufbrach, bereits alles, was sie trug, von Schnee bedeckt.
Als sie im Feldlager ankam, war Myr, tüchtig wie immer, schon dabei, Leute aus unzulänglichen Behausungen in die wenigen Unterkünfte umzuquartieren, die so aussahen, als ob sie dem Sturm standhalten könnten. Als er Aralorn heranstapfen sah, winkte er sie weiter zu seinem eigenen Zelt.
Sie fand es voller verängstigter Menschen. Die Stürme der Nordlande waren zu Recht für ihre Heftigkeit berüchtigt. Obwohl die steilen Talwände das Lager vor der vollen Wucht des Unwetters schützten, war das wütende Heulen des Windes so laut, dass man beinahe sein eigenes Wort nicht verstand.
In aller Ruhe suchte sich Aralorn einen Platz für ihre Decken, legte sich hin, ignorierte ihr immer noch klammes Schlafzeug und schloss die Augen. Ihre Gelassenheit schien Wirkung zu zeigen, denn alle anderen ließen sich ebenfalls nieder und waren größtenteils bereits eingeschlafen, als Myr zu seinem Nachtlager zurückkehrte.
Am Morgen war das ärgste Toben des Sturms vorbei. Draußen lag kniehoch der Schnee, und an einigen Stellen, wo es zu Verwehungen gekommen war, sogar hüfthoch.
Aralorn half gerade beim Feuermachen, als Myr sie fand und beiseite nahm. »Ich bin vielleicht kein Magier, aber dass dieser Sturm ungewöhnlich ist, das merke selbst ich. Spürt Ihr die Luft? Sie wird bereits wieder wärmer, der Schnee fängt schon an zu schmelzen. Ich weiß, die Stürme kommen hier plötzlich – aber dieser ist eher wie die Frühjahrsstürme. Die Winterstürme brechen herein und lassen dann wochenlang nicht nach. Habt Ihr irgendetwas Unnatürliches an ihm bemerkt?«
Aralorn schüttelte den Kopf und nieste – in nassen Decken zu schlafen war der Gesundheit nicht gerade förderlich. Sie war nicht die Einzige, die sich erkältet hatte. »Nein, aber ähnliche Gedanken sind mir auch schon gekommen; ich konnte allerdings nichts feststellen, keinerlei Spuren von Magie in dem Sturm« – zumindest keiner menschlichen; grüne Magie war in Stürmen immer vorhanden –, »obwohl irgendetwas eigenartig daran war, das gebe ich zu.« Sie zuckte die Achseln. »Wenn der ae’Magi den Sturm ausgelöst hat, dann hat er das mit Sicherheit zu verbergen versucht, was er wahrscheinlich auch kann – jedenfalls vor mir. Obschon das Wetter nicht unbedingt etwas ist, mit dem Magier wie er gut umgehen können. Die Fallensteller dieser Gegend würden Euch sagen, dass der Alte Mann vom Berge den Sturm herbeigeführt hat.«
Es folgte ein kurzes Schweigen, dann breitete sich langsam das ihr inzwischen wohlbekannte Lächeln auf Myrs Gesicht aus. »Alles klar, hab verstanden, Geschichtenerzählerin. Also: Wer ist der Alte Mann vom Berge?«
Sie grinste ihn fröhlich an. »Die Pelzjäger erzählen sich viele Geschichten über ihn. Manchmal ist er ein Unhold, der die Leute in den Wahnsinn treibt und sie dann frisst. Dann wieder ist er ein freundlicher alter Mann, der Sachen macht, die freundliche alte Männer normalerweise nicht tun können – zum Beispiel das Wetter verändern.« Oder vielleicht ein Kind, das sich verlaufen hat, in Sicherheit führen , dachte sie. Vorausgesetzt, es liegt ein Körnchen Wahrheit in irgendeiner der Geschichten. Und sei es auch nur ein Staubkorn. Sie würde mit Wolf darüber reden, wenn er wieder zurück war. »Der Alte Mann vom Berge wird zu jeder Pelzjägerhochzeit oder
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