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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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überlege, in die unbeleuchtete Wohnung hineinzugehen, in der, wie ich weiß, ein Computer stehen wird, auf dem ich im Internet nachschauen kann, ob Robert wirklich tot ist. Denn woher sollte Natascha die Information sonst haben? Dann hole ich das Macbook ins Bett, um den Traum aufzuschreiben.

    9.4. 2012 15:12

    Der erste Brustschwimmzug des Jahres im Plötzensee. Schlüsselbein steht komisch hoch, sonst kein Problem.

    15.4. 2012 20:10

    Recherche: Unter den Brücken von Helmut Käutner.

    17.4. 2012 21:46

    Morgen MRT. C. ruft an, um zu sagen, daß ihr Vater die Nacht vielleicht nicht überlebt. Nein, du mußt nicht kommen, nein. Bayern gegen Real. Anschließend Dokumentation über ugandische Kindersoldaten. Von Rebellen verschleppte Mädchen, die in einem Heim auf ihren HIV-Test warten. Ihr größter Wunsch ist es, eine Schule zu besuchen und lesen und schreiben zu lernen, ohne daß erkennbar wäre, warum. Nichts deutet darauf hin, daß es ihnen in ihren Dörfern etwas helfen würde. Ihren Familien sind sie entfremdet, Geister müssen ausgetrieben werden. Ein Mädchen möchte lieber zu den Rebellen zurück, in das ihr besser bekannte Leben. Jungen verbringen die Nächte auf den Straßen, wo es sicherer ist als in den Häusern, die immer wieder überfallen werden. Einem haben sie Nase und Lippen abgeschnitten. Er war zu unrecht bezichtigt worden, Soldat gewesen zu sein, und die Rebellen haben ihn an einen Baum gebunden und beide Ohren, Nase und Lippen abgeschnitten. Dann wurde eine Hand abgehackt. Er bat, ihm die andere zum Leben zu lassen, und sie haben sie auch abgehackt. Ich habe geweint, sagt er.

    18.4. 2012 9:39

    Teetrinken, lesen und arbeiten an einem herrlichen Morgen mit blauem Himmel über der Zivilisation und den sich heute sehr stark materieähnlich gebärdenden, gelben Häusern vor meinem Fenster.

    19.4. 2012 14:11

    Befund liegt dem Onkologen nicht vor, nicht auf dem Schreibtisch und auch sonst nirgends. Anruf beim Radiologen, dann verschwindet Dr. Vier Richtung Empfangszimmer, wo sich hinter drei freundlichen Empfangsdamen in weißen Kitteln für gewöhnlich das Faxgerät versteckt.

    Ausblick über Berlin und die Plattenbauten. Ein Stethoskop. Ein oranger Notizblock. Eine grüne Kaffeetasse mit Teelöffel. Eine Brille, eine schwarze Tastatur, eine schwarze Schreibtischunterlage. Eine exotische Pflanze. Eine Blutdruckmanschette. Drei Stühle. Dunkelgrauer Nadelfilz. Ein bunter Porzellanelefant auf dem Boden. Das polierte Holz der Tischplatte, auf der Rücken an Rücken mit dem Arztrechner mein Macbook steht, in das hineingehackt wird. So, sagt Dr. Vier, setzt sich und liest. Aha, aha. Schrankenstörung, Strukturstörung, Balken, kennen wir ja. Leukenzephalopathie und immer wieder das Wort progredient. 5,3 Zentimeter hinten links, mehr oder weniger stabil. Besser geht’s doch kaum, behaupte ich, Dr. Vier widerspricht. Aber erstmal drei Monate? Ja, das wohl.

    Und ab.

Siebenundzwanzig : 

    23.4. 2012 12:00

    Mietvertrag unterschrieben für eine Wohnung, die ich noch nicht gesehen habe.

    24.4. 2012 19:00

    Flug nach Agadir, Fahrt nach Essaouira. Als wir das Auto vor der Stadtmauer parken, bin ich sicher, herzukommen sei ein Fehler gewesen. Die nächtliche Ankunft am von Flutlicht zugestrahlten Strand lange nicht so magisch wie beim letzten Mal. Dunst und Nebel, sagt Per, beim letzten Mal war Dunst und Nebel. Ach ja.

    Bewohne das gleiche Zimmer wie vor zwei Jahren, es ist schön und fremd, und von Müdigkeit, Aufregung, Chemo und Reisestreß zerschossen sacke ich ins Bett.

    25.4. 2012 7:00

    Bei Sonnenaufgang durch fast leere, stinkende Gassen zum Meer. Zwei Straßenköter, die um mich herumspringen. Das Wasser ist nicht kalt. In sehr weiter Ferne ein paar Fußballspieler.

    25.4. 2012 12:00

    Der Spaziergang durch die Altstadt ist erst herrlich, dann stressig, dann schön, dann ermüdend. Ich denke an meine neue Wohnung und wäre nun vielleicht doch lieber in Berlin.

    25.4. 2012 18:42

    Nach Thor Kunkel entlarvt auch Lottmann die Hirnsache im taz-Blog als Marketingcoup.

    26.4. 2012 11:46

    Drei oder vier asynchrone Muezzins. Auf der Hoteldachterrasse in praller Sonne sitzend und arbeitend, überrascht mich die Meldung vom Tod einer Brieffreundin aus Freiburg. Ihre Erstdiagnose war im Dezember 2010, nach jeder von drei Operationen wuchs das Glioblastom sofort weiter. Im Gegensatz zu mir machte sie sich Hoffnungen, klammerte sich an neue Mittel und suchte in Studien reinzukommen. Vor zwei

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