Arbeitsfrei: Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen (German Edition)
für einen neuzeitlichen Mühlenbauplatz ist seine Verkehrsanbindung und die Verfügbarkeit und Qualität des zu mahlenden Rohmaterials in der weiteren Umgebung. Heutige Großmühlen verarbeiten eintausend Tonnen oder gar mehr Getreide in nur vierundzwanzig Stunden. Die größte Mühle in Deutschland kann bis zu fünftausend Tonnen Getreide pro Tag durchsetzen. Diese Mühlengroßfabriken benötigen vor allem effiziente Wege, um sich riesige Mengen Korn anliefern zu lassen, zwischenzeitlich unterzubringen und die fertigen Mahlprodukte zum Kunden zu schaffen.
Häufig findet man Mühlen daher in der Nähe von Autobahnen, Eisenbahnstrecken, großen Binnenschiffahrtswegen oder Seehäfen – sehr oft dort, wo mehrere dieser Logistikoptionen zusammenfallen. Die hohen Gebäude der Mühlen mit den charakteristisch aufragenden Rundtürmen ihrer Silos sind nicht selten die Landmarken, anhand deren man in einer Stadt den Binnenhafen finden kann.
Tausend Tonnen jeden Tag
Die Dimensionen, in denen im modernen Getreidegewerbe gearbeitet wird, sind nur schwer zu fassen. Aus einhundert Kilogramm Weizen kann man etwa dreitausend Brötchen backen. Einhundert Kilo sind zwei große oder vier kleinere Säcke Mehl. Wie muß man sich aber tausend Tonnen Weizen vorstellen? Eine ungefähre Vorstellung davon, wieviel eine große Mühle am Tag verarbeitet, kann man sich durch die Transportfahrzeuge machen. Ein typischer großer Lkw lädt zwanzig bis dreißig Tonnen Weizen, ein Eisenbahnwaggon bis zu vierzig Tonnen, ein Binnenschiff anderthalb- bis zweitausend Tonnen. Daß sich Lkw-Schlangen am Mühleneingang bilden, ist daher keine Seltenheit.
Einen weiteren Anhaltspunkt zum Verständnis der schieren Größe moderner Mühlen liefert ein Blick zurück in die Geschichte. Die ältesten Wassermühlen wurden wahrscheinlich vor mehr als fünftausend Jahren in Asien gebaut. Erfindungsreiche Mechaniker konstruierten schon zu Hoch-Zeiten des Römischen Reiches im zweiten Jahrhundert große Mühlenzentren, die ihre Kraft aus dem Wasser bezogen, das teilweise kilometerweit herangeleitet wurde. Die Anlage im französischen Barbegal – die größte aus römischer Zeit, von der wir Kenntnis haben – bezog ihren Antrieb aus einem steilen Wasserfall im Trinkwasser-Aquädukt, das die Stadt Arles versorgte. Über zwei Reihen aus je acht Wasserrädern strömte das Wasser den Hang hinunter. Während der etwa zweihundertjährigen Betriebsdauer der Anlage wurden kontinuierlich Verbesserungen vorgenommen. Neue Mühlsteinformen wurden erprobt, der Fluß des Wassers optimiert. Wieviel Getreide mahlte nun diese römische Mühlenfabrik? Die Schätzungen zur Leistungsfähigkeit der Mühlen von Barbegal schwanken zwischen vier und achtundzwanzig Tonnen Getreide pro Tag – für damalige Verhältnisse geradezu gigantische Mengen.
Für Zeitgenossen, die es gewohnt waren, daß jeden Tag mehrere Stunden Arbeit mit der Handmühle nötig waren, um das Mehl für einen kleinen Haushalt zu gewinnen, muß diese frühe Großindustrie eine nicht weniger magische Anmutung gehabt haben wie für uns moderne industrielle Anlagen. Mehl für Tausende Menschen erzeugen, gemahlen von der Kraft des Wassers – auch in den folgenden Jahrhunderten gab es keine Mühlen in dieser Dimension in Europa. Die typische Mühle in Deutschland in den Jahrhunderten vor dem Einzug der Dampfmaschinen vermahlte zwischen einer viertel und einer ganzen Tonne Getreide am Tag – ein Tausendstel des heutigen Durchsatzes. Dabei mußte es sich aber um einen guten Tag handeln, an dem der Mühlbach genügend, aber auch nicht zu viel Wasser führte, nicht zugefroren war und die hölzerne Mechanik der Mühle keine Probleme machte.
Eines der wenigen Zahlenwerke, aus denen sich die Struktur der mittelalterlichen Mühlenwirtschaft rekonstruieren läßt, ist das Domesday Book , eine vollständige Erhebung aller neuen englischen Besitztümer, die Wilhelm der Eroberer im Jahre 1085 in Auftrag gab. 5624 Wassermühlen wurden gezählt, von denen jede im Schnitt etwa dreihundert Menschen versorgte. Diese kleinteilige Regionalität des Mühlenbetriebs hatte zum einen mit der begrenzten Energie zu tun, die Wasser und Wind damals liefern konnten, zum anderen aber auch mit den Transportwegen, die mit Karren und Kutschen weite Lieferwege mit voluminösen Gütern wie Getreide zeitraubend und unökonomisch machten.
Auch heute noch beziehen die meisten Mühlen den größeren Teil ihres Korns aus einem nach jetzigen Maßstäben
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