Arbeitsfrei: Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen (German Edition)
vergleichsweise begrenzten Umkreis – typischerweise um die hundertfünfzig Kilometer. Ergänzt wird diese lokale Belieferung mit Getreide jedoch um örtlich nicht oder nicht preiswert verfügbare Getreidesorten und -qualitäten, die per Schiff oder Eisenbahn auch über Hunderte oder Tausende Kilometer herangefahren werden.
An einer modernen Mühle angekommen, muß das Korn entladen werden, ohne daß noch jemand im Wortsinne Hand anlegt. Meist geschieht dies – im Falle von Lkw und Eisenbahn – per Ausschütten durch Gitterroste in unterirdisch gelegene Fördersysteme, von wo das Getreide dann zu großen Silos oder direkt zu den nächsten Verarbeitungsschritten transportiert wird. Bei den Binnenschiffen mit ihrer deutlich größeren Ladung wird das Korn mit riesigen Schläuchen angesaugt, in denen große Gebläse einen Unterdruck erzeugen. Ein halbes Megawatt elektrische Leistung ist für eine solche Schiffsentladeanlage eine übliche Größenordnung. Die Menge an Strom, die während einer etwa zehnstündigen Entladung eines Binnenschiffs verbraucht wird, reicht für einen fünfköpfigen Haushalt ein ganzes Jahr, so groß ist die Menge des angesaugten Getreides. Ansauganlagen für Lkws sind entsprechend kleiner dimensioniert, aber gegenüber dem Ausschütten ebenfalls energieaufwendig.
Doch kann ein Bauer sein Korn nicht einfach zur Mühle fahren und abliefern. Denn bevor das Getreide von den Neuzeitmüllern angenommen und in die Silos gelassen wird, muß es eine umfassende Qualitätskontrolle passieren. Aus jeder angelieferten Partie Korn zieht der Aufkäufer mehrere Proben, die verschiedensten Tests unterzogen werden. Dazu fährt jeder einzelne Lkw unter ein ferngesteuertes Ansaugrohr, mit dem aus verschiedenen Stellen der Lieferung ein paar Kilogramm direkt ins Labor befördert werden.
Dort wird als erstes ganz grundlegend überprüft, ob die Getreidesorte eigentlich die tatsächlich bestellte ist – man sieht dem Lkw schließlich nicht an, was drin ist, und Ladepapiere können auch falsch sein oder verwechselt werden. Ist die Getreidesorte die gewünschte, werden die Proben auf Verunreinigungen hin untersucht. Denn Getreide kann auf vielfältige Arten den Qualitätsansprüchen nicht genügen. Es kann zuviel Sand und Steine, Strohreste oder mitgeerntete Unkrautsamen enthalten. Es kann zu feucht oder zu trocken sein. Pilzkrankheiten wie das Mutterkorn oder Schimmel können die Ähren befallen haben. Das Getreide kann auch schlecht riechen oder gar von Insekten, anderen Tieren und ihren Hinterlassenschaften heimgesucht worden sein.
Mutterkorn
Eines der großen Probleme beim Getreideanbau ist seit Jahrhunderten das Mutterkorn. Dabei handelt es sich um eine Pilzkrankheit, die sich durch Inaugenscheinnahme erkennen läßt, da die Körner der Ähre länglich und schwarz werden. Der Pilz produziert verschiedene für den Menschen schädliche Alkaloide. Der Name rührt daher, daß eines dieser Mutterkornextrakte, das Ergometrin, seit langem als zum einen schädlich und zum anderen nützlich für Schwangere bekannt ist, weil es eine kontrahierende Wirkung auf die Gebärmutter hat. Da diese Eigenschaft früher genutzt wurde, um Geburtswehen einzuleiten, nachgeburtliche Blutungen zu stillen, aber auch Abtreibungen durchzuführen, entstand der Name »Mutterkorn«. Die Alkaloide aus den schwarzen Körnern führen jedoch auch zu einer Verengung der Blutgefäße, drastischen Empfindungsstörungen und zum Absterben von Gliedmaßen. Besonders hohe Dosen können sogar den Tod durch Atem- und Herzstillstand zur Folge haben. Es gibt also gute Gründe für die Mühlenbetreiber, das Mutterkorn in Getreidepartien zu finden, bevor es verarbeitet wird.
Nicht nur Schwangeren kann das Mutterkorn schaden oder nutzen, seine Alkaloide dienen auch als Grundstoff für die Medikamentenherstellung. Dazu wird jedoch meist in speziellen Brutsilos künstlich ein Mutterkornbefall mit ausgewählten Pilzkeimen erzeugt. Ebenfalls zu den Mutterkornalkaloiden zählt die Lysergsäure, die in jüngerer Zeit als Grundstoff zur Herstellung der legendenumwobenen psychedelischen Droge LSD dient. Nicht erst seit die Beatles mit »Lucy in the Sky with Diamonds« die Entdeckung des Chemikers Albert Hofmann besangen, sind die bewußtseinserweiternden Wirkungen der auch im Mutterkorn enthaltenen Stoffe bekannt. Es gibt Hinweise darauf, daß schon vor Tausenden von Jahren bekannt war, daß Lysergsäurealkaloide für psychoaktive Zubereitungen verwendet werden
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