Arbeitsfrei: Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen (German Edition)
etwa auf und rennen weg, sondern ducken sich in die Ackerfurche. Wird ein Rehkitz vom Mähwerk erfaßt, ist, wie es ein Bauer ausdrückte, »der Tag gelaufen«. Nicht nur sei das seelisch belastend für den Fahrer, auch müßten die Überreste des Tiers dann sorgfältig aus dem Mähdrescher geputzt werden, da sich sonst Botulinustoxine am Getreide anlagern können, die für Mensch und Tier gefährlich sind.
Das Problem ist mit Technik derzeit noch schwierig zu lösen, obwohl Tiere und ihre Körperwärme durchaus mit Sensoren erkannt werden können. Durch die hohe Fahrgeschwindigkeit des Mähdreschers müßte man die Tiere jedoch im Getreide mindestens zwanzig oder dreißig Meter im voraus erkennen, um rechtzeitig anhalten zu können, und das alles durch das dichte Korn hindurch. Experimentiert wird in Kooperation mit Universitäten sogar mit kleinen Drohnen, die an einem Kabel vor dem Mähdrescher herfliegen und mit einer Infrarotkamera von oben Ausschau nach Tieren halten, um dann rechtzeitig Bremsmanöver einzuleiten. Die Kosten eines Tages Stillstand zur Erntezeit sind so hoch, daß auch solch relativ abstrus oder aufwendig klingende Technologien ernsthaft in Erwägung gezogen werden.
Die Parallelen zwischen Luxusautobau und Landmaschinenproduktion enden nicht bei Preis und Ausstattungsvarianten. Auch die emotionale Beziehung der Bauern zu ihren Maschinen kann ähnlich groß sein. Wie im Luxusautogeschäft gibt es daher bei den Herstellern auf Wunsch für den frischgebackenen Mähdrescherkäufer ein »Golden-Key«-Programm. Hat ein Käufer diesen goldenen Schlüssel, gehört zum Kauf ein umfängliches Besuchsprogramm im Werk. Dabei kann er seinem persönlichen Mähdrescher am Montageband bei der Entstehung und im Qualitätstest zusehen.
In der Vorführhalle bei Claas stehen die wichtigsten Modelle ebenso hochglanzpoliert und effektvoll ausgeleuchtet zur Besichtigung bereit wie bei den Autobauern. Sie sind vielleicht nur noch ein wenig eindrucksvoller durch ihre schiere Größe und Masse. Am Ende des Tages bekommt der »Golden-Key«-Käufer dann den Schlüssel zu seinem ganz persönlichen Mähdrescher überreicht und könnte ihn vom Werksgelände fahren. Transportiert werden die fertigen Maschinen allerdings praktisch meist per Bahn oder Lkw. Angesichts der eher unhandlichen Größe und begrenzten Geschwindigkeit, die Straßenfahrten nur wenig freudvoll machen, chauffieren allein die Bauern aus der unmittelbaren Umgebung des Werks ihre neue Maschine stolz direkt vom Fabrikhof auf den Acker.
Die Konkurrenz unter den Herstellern und die hohe emotionale Bindung, die nicht zuletzt durch den Preis verstärkt wird, führt auch dazu, daß andere Auswüchse der Autobranche im Landmaschinenbau Einzug gehalten haben. Neue Modelle und Varianten von Mähdreschern werden auf möglichst abgelegenen Feldern weit weg von neugierigen Augen und Kameras getestet. Denn auch in der Landmaschinenbranche sind die Erlkönigjäger unterwegs. »Erlkönige« werden – wie in der Autobranche – diese noch nicht bekannten Mähdreschermodelle genannt. Auf den Testfeldern werden charakteristische neue Formen der Maschinen durch Verwendung von alten Gehäuseteilen und Aufklebern verschleiert oder neue Sensoren und Anbauten mit irreführenden Formen versehen.
Die Landmaschinenfachpresse mit sprechenden Titeln wie Profi und Top-Agrar heizt die Begierde nach neuen, tolleren Modellen an. Sie publizieren genau wie die Autozeitschriften Fotos der »Erlkönige«. Aber auch Leserreporter kommen natürlich trotzdem immer wieder an die entsprechenden Bilder und versorgen die interessierte Leserschaft mit Spekulationen und Gerüchten über neue Modellvarianten. Die Namensgebung der Maschinen ist ähnlich wie in der Autoindustrie ebenfalls nicht ohne Belang. Mähdrescherhersteller setzen mit ihrer Betonung von Kraft und Mächtigkeit genau auf die Käufer zugeschnittene Akzente – schon seit Jahrzehnten: Eines der erfolgreichsten Modelle trägt den Namen »Dominator«.
Der Produktionsrhythmus eines Mähdrescherherstellers richtet sich nach den Zyklen der Landwirtschaft. Natürlich möchten die Bauern, Agrarbetriebe und Landmaschinenvermieter ihre neuen Mähdrescher am liebsten direkt vor der Sommerernte beziehen – und erst danach bezahlen, wenn das Korn geerntet und wieder Geld in der Kasse ist. Durch spezielle Arbeitszeitkonten trägt man diesem Geschäftszyklus Rechnung. Im Winter und Frühjahr wird routinemäßig eine Stunde pro Tag mehr
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