Arbeitsfrei: Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen (German Edition)
Mengen extrem leicht entzündlicher und partiell auch giftiger Flüssigkeiten und Gasen hantiert wird, kommt schnell Verständnis für die allgegenwärtige Sicherheitsmanie auf.
Jeden Tag werden in dieser Raffinerie etwa sechzigtausend Tonnen Rohöl verarbeitet. Das sind circa siebenhundertfünfzig Liter in jeder Sekunde. Diese Menge paßte in den ersten einfachen Raffinerien, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gebaut wurden, in einen Siedekessel. Wenn man sich Badewannen voller Erdöl vorstellt, sind das vierhundertfünfzig ölige Vollbäder pro Minute.
Entgegen der landläufigen Vorstellung sieht Erdöl jedoch nicht immer gleich aus. Die Spanne reicht von fast farblosen, dünnflüssigen Edelsorten aus dem Mittleren Osten – die Ölleute sprechen von »leicht« und »süß« – über Nordseesorten mit der Optik dunklen Filterkaffees bis zu den klebrigen, dunkelbraunen Flüssigkeiten, wie sie etwa in Rußland und Venezuela aus dem Boden gepumpt werden. Ein entscheidendes Qualitätsmerkmal und gleichzeitig ausschlaggebend für die Farbe des Erdöls ist sein Gehalt an Schwefel, Schwermetallen und anderen Beimischungen, die in den Endprodukten der Raffinerien unerwünscht sind. Je weniger Schadstoffe sie enthalten, desto weniger Aufwand muß in der Raffinerie betrieben werden, um so höher ist aber auch der Preis für das Rohöl. Stärker kontaminiertes Öl wird billiger gehandelt, was – zumindest in der Theorie – die höheren Raffineriekosten ausgleicht. In der Praxis hängt die Ökonomie des Öls jedoch auch davon ab, welche Anteile in der jeweiligen Sorte enthalten sind und wie aufwendig die Extraktion in der Raffinerie ist.
Angeliefert wird das Erdöl aus den wesentlichen Produzentenländern ausschließlich per Schiff. Die Klasse der Tankschiffe, in denen derzeit das meiste Öl transportiert wird, nennt man »Very Large Crude Carrier«, kurz »VLCC«. Ein Schiff dieser Größe faßt bis zu dreihunderttausend Tonnen Erdöl, deckt also den Bedarf einer großen Raffinerie für fünf Tage. Mit einem Tiefgang von bis zu fünfundzwanzig Metern können solche Schiffe der Kategorie VLCC allerdings nur wenige Häfen anlaufen.
Einer davon ist der Europoort im niederländischen Rotterdam. Das Entladen des Schiffes in die gigantischen Speichertanks des Hafens dauert etwa einen Tag. In dieser Zeit steigt das Schiff über zwanzig Meter aus dem Wasser empor, weil es durch das abgepumpte Öl leichter wird. Der Hafen hält die immensen Tankkapazitäten nicht nur bereit, um die per Pipeline angeschlossenen Raffinerien in einigen Dutzend Kilometern Umkreis zuverlässig mit Öl zu versorgen. Die großen Tanks des Hafens stellen gleichzeitig eine Reserve dar, die gegen plötzliche Lieferengpässe absichert. Denn bei einem Ausfall der Pipeline zum Hafen reichen die Reserven an der Raffinerie selbst gerade einmal für zwanzig Minuten.
Eine Raffinerie stillstehen zu lassen, weil sich kein Öl im Zufluß befindet, ist praktisch unmöglich. Das Wiederanfahren der komplexen, zusammenhängenden und voneinander abhängigen Produktionsprozesse dauert Wochen und kostet Unsummen. Daher ist genügend Reservekapazität und Anpassungsfähigkeit auf der Zuflußseite von entscheidender Bedeutung für einen Raffineriestandort. Ein weiterer wichtiger Grund für die großen Speichermengen ist, daß die Raffinerien eine gleichbleibende Ölqualität und -zusammensetzung bevorzugen. Im Hafen werden daher verschiedene Ölsorten nach Kundenpräferenz zusammengemischt – die Ölleute sprechen von einem »Blend«. Damit wird zum Beispiel zu schweres, schwefliges Öl aus Venezuela durch Verdünnung mit leichterem, aber teurerem aus dem Mittleren Osten besser verarbeitbar gemacht. Dafür müssen immer genügend große Mengen verschiedener Sorten vorrätig sein, um neue Anlieferungen entsprechend den Kundenwünschen durch Mischen mit bevorrateten Sorten anzupassen.
Die beiden wesentlichen Prozesse in einer Erdölraffinerie sind die Destillation und das Cracking. Die Destillation funktioniert im Grunde nicht viel anders, als man das vom Schnapsbrennen kennt – nur die Dimensionen sind um einiges größer: In einem turmförmigen Reaktor wird unten das Rohöl eingeleitet und auf etwa dreihundertfünfzig Grad Celsius erhitzt. Aus dem Öl steigen die flüchtigen Bestandteile als Dampfgemisch aus den verschiedenen Kohlenwasserstoffen nach oben. Über die Länge des Turms verteilt sind Lochblecheinsätze, an denen aufgrund der nach oben hin immer
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