Arbeitsfrei: Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen (German Edition)
Paraffinproduktion ihre Wärmezufuhr verliert und das Wachs in den Leitungen erstarrt und dann aufwendig entfernt werden muß oder gar ein Teil der Anlage Schaden nimmt, können scheinbar kleine Fehler rasch viele Millionen Euro kosten. Entsprechend sorgfältig ist die Ausbildung der Anlagenfahrer.
Mindestens hundertzwanzig Operators müssen zu jedem Zeitpunkt auf dem unüberschaubaren Gelände der Anlage sein, damit die Produktion in sicheren Bahnen läuft. Sie arbeiten in einem System aus fünf überlappenden Schichten, meist um die zweihundert der Operators je Schicht. Da die menschliche Konzentrationsfähigkeit nach einigen Stunden stark nachläßt und dementsprechend die Fehlerhäufigkeit steigt, beobachten die Operators nur in einem Teil ihrer Schicht die Anzeige auf den Bildschirmen der Steuercomputer im Leitstandbunker. Andere Aufgaben wie das Konzipieren neuer Produktionsprozesse und die Planung und Planprüfung von Umbauten, Reparaturen und Erweiterungen müssen auch erledigt werden und gehören ebenfalls zur Schichtzeit.
Einen weiteren Teil der Arbeitszeit füllen Kontrollgänge durch die Anlage aus, um Probleme, die noch nicht von den Sensoren erfaßt werden können, zu erkennen oder kleinere Routinewartungsarbeiten vorzunehmen. Häufig kündigen sich größere Unfälle durch kleinere Leckagen an, die aber noch keinen signifikanten Druckabfall erzeugen, oder durch verdächtige Geräusche, die nur vor Ort, inmitten des Rohrlabyrinths, wahrzunehmen und damit zu verhindern sind.
Manchmal gibt es aber vorab keinerlei Anzeichen für eine platzende Leitung oder ein berstendes Ventil, bevor es zu spät ist. Alle Anlagen der Raffinerie sind daher so konstruiert, daß in möglichst allen denkbaren Fehlerfällen das Unglück einen vorgeplanten Verlauf nehmen kann. Platzt zum Beispiel eine Leitung, in der eine hochbrennbare Ölfraktion unter Druck zu einem Destillationsturm transportiert wird, erkennen Sensoren den Druckabfall und riegeln computergesteuert die Leitung beidseitig der Bruchstelle ab.
In allen Störfällen werden die in den betroffenen Anlagenteilen verbleibenden Mengen an brennbaren Stoffen durch ein separates, gelb gestrichenes Leitungssystem zu einem Abfackelturm geleitet – dem sogenannten Flare-Tower – und dort in einer Höhe von über einhundert Metern verbrannt. Früher wurde hier regelmäßig das Raffineriegas verbrannt, also unerwünschte Gasprodukte, die beim Destillieren und Cracken entstehen. Heute dienen sie jedoch zum Beheizen der Raffinerieanlagen.
Wer sich schon immer fragte, warum bei modernen Raffinerien auch heute noch an wenigstens einem Abfackelturm zu jeder Tages- und Nachtzeit eine kleine Flamme lodert: Diese dient mittlerweile für den Ernstfall einer Havarie dazu, das schwer vorhersagbare Gemisch aus Erdölprodukten, das aus dem vom Unfall betroffenen Anlagenteil in den Turm geleitet wird, auch zuverlässig und sofort zu entzünden. Normalerweise wird zusätzlich noch Wasserdampf in den Abfackelturm injiziert, um die Rußbildung zu vermindern.
Das Abfackeln großer Mengen Gas führt zu einem lauten, dröhnenden und zischenden Geräusch. Wann immer man also an einer Raffinerie eine laut dröhnende und weithin sichtbare Flamme auf dem Abfackelturm sieht, kann man folgern, daß irgendetwas schiefgegangen ist. Das muß nicht zwingend eine geplatzte Rohrleitung, ein Brand oder eine schwere Havarie sein. Die automatische Abfackelung wird auch dann eingeleitet, wenn in einer Anlage der zulässige Betriebsdruck überschritten wird oder andere Prozeßparameter unkontrollierbar werden.
Typischerweise muß danach die betroffene Anlage untersucht, repariert und langsam wieder angefahren werden. Das bleibt jedoch nicht ohne Folgen für andere Teile der Raffinerie. Alle Prozesse und Anlagen sind von mehreren anderen Bereichen abhängig. Der Grund für das enorme Rohrgewirr ist ja, daß praktisch jedes Haupt-, Neben- und Seitenprodukt zu einem Teil des Gesamtkomplexes gepumpt und dort weiterverarbeitet wird – und sei es nur entstehende Wärme, die in Dampfrohren von Verarbeitungsprozessen, die Wärme produzieren und gekühlt werden müssen, zu solchen geleitet wird, die Wärmezufuhr brauchen. Zum optischen Wirrwarr trägt zusätzlich bei, daß viele der Rohre nicht gerade verlaufen, sondern alle paar Meter Dehnungsausgleicher in typischer U-Form haben, da sich die Rohre sonst bei Erwärmung zu stark ausdehnten und bei Abkühlung wieder zusammenzögen.
Unfällen und Verschleiß
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