Arche Noah | Roman aus Ägypten
alle Quellen versiegt, wie du weisst. Was soll man machen? Hast du für mich eine Möglichkeit in Kuwait gefunden?«
»Noch nicht. Aber ich habe heute Mabrûk al-Manûfi angerufen.«
»Hat er etwas Neues für mich?«
»Ich weiss es nicht. Ich habe am Mittag mit ihm gesprochen. Er kommt morgen früh nach Assuan, sagte er.«
»Ja, bitte triff ihn unbedingt, bevor du wieder abreist. Wir müssen einfach an jede Tür klopfen. Man weiss ja nie, was es bringt.«
»Klar doch, ich werde mich auf jeden Fall mit ihm treffen. Übrigens habe ich heute Morgen Hagg Ibrahîm die 5000 Pfund zurückgezahlt.«
»Da fällt mir ein Stein vom Herzen!«
D ie Versammelten gingen auseinander. Arm in Arm schlenderten Hassûna und Nabri zum Nilufer.
»Hassûna … also, meine Familie … wenn ich nicht hier bin … ich bin dir so dankbar, was du alles für meine Kinder tust und für …«
Plötzlich bekam er eine Ohrfeige und einen Faustschlag in den Bauch. Nabri stürzte sich auf seinen Bruder und rang mit ihm, wie sie es schon immer gern getan hatten. Dann zogen sie sich aus, sprangen in den Nil und schwammen zur Insel der Pflanzen hinüber. Die Strömung war recht stark, doch sie liessen sich nicht abtreiben. Mit kräftigen Zügen kämpften sie sich Schulter an Schulter vorwärts. Jeder versuchte, den anderen zu überholen. Vergebens, keiner liess sich abhängen. Doch dann, wenige Meter vor dem Ufer, steigerte Hassûna sein Tempo und gewann wie immer den Wettkampf. Die Brüder waren nur zehn Monate auseinander. Beide waren im selben Jahr geboren worden und standen sich nah wie Zwillinge, auch wenn sie äusserlich sehr verschieden waren und jeder seine besonderen, unverwechselbaren Merkmale und Eigenschaften hatte. Planschend wie zehnjährige Jungen, schwammen sie zurück.
M urtada öffnete Richard die Tür und fuhr fort, die Koffer zu packen. Richard setzte sich auf einen der Holzstühle und betrachtete das Zimmer, das viel grösser als seines war. Der Boden war mit Dielen belegt, die unter den Füssen knarrten. Alles hier roch nach Geschichte. Deborah hatte sich auf dem Balkon an einen Stuhl gelehnt. Vom langen Stehen beim Packen tat ihr das Knie weh. Sie strahlte eine unendliche, wohl von Isis eingegebene Ruhe aus, während sie einletztes Mal den faszinierenden Ausblick über den Nil und die zahllosen Felseninseln genoss. Heisser Wind blies ihr ins Gesicht, derselbe trockene Wind, dachte sie, der diese Zivilisation hervorgebracht oder besser gesagt erhalten hat und dies noch bis in alle Ewigkeit tun wird. Sie atmete kräftig ein und forderte ihren Osiris auf, es ihr gleichzutun. Er solle seine Lunge mit der Luft seiner Vorfahren füllen, um sie nach der Landung in Heathrow auskosten zu können. Deborah trat an Richard heran, umarmte ihn und strich ihm liebevoll über den Kopf. Offenbar hatte die ägyptische Sentimentalität sie aus ihrer britischen Zurückhaltung gelockt. »So viel Liebe!«, kommentierte Murtada lachend. »Schmeichelst du dich bei deinem Bruder ein, weil er bald ein berühmter Ägyptologe sein wird? Und eine Bitte, Richard: Setz ja unsere Namen mit auf die Entdeckerliste, wenn du es als Erster durch den historischen Gang von Assuan nach Luxor schaffst!« – »Mach ich«, versprach dieser. »Die Entdeckungstour beginne ich mit einer Niltaufe. Ich habe mit Hassûna vereinbart, zu einer Stelle in der Nähe des ersten Kataraktes zu fahren.« Und mit einem breiten Lächeln fügte er hinzu: »Er wird mir bei der Seelenreinigung helfen, auf dass ich in meinem Leben eine neue Seite als Ägyptologe aufschlage, der knackig braune Statuen mit schwarzen Augen ausbuddelt.«
Feuer und Flamme für das Land und Geisel einer sie verzehrenden Leidenschaft, reiste Deborah ab. Sie hatte das Gefühl, Murtada nun um ein Vielfaches mehr zu lieben.
I ch weiss noch genau, wie wir in der Schule im Westen Londons die Nilkatarakte durchgenommen haben. Sechs sind es, angefangenbeim ersten südlich der Stadt Assuan bis zum letzten nördlich von Khartum. Ich habe Mister Howards freundliches Gesicht deutlich vor Augen, jede Runzel ist mir in Erinnerung. Anhand einer Karte zeigte er uns den Verlauf dieses wunderbaren Flusses, aus dem eine der bedeutendsten Zivilisationen der Welt hervorgegangen ist. Wo sind all die Jahre hin? Irrsinnig schnell sind sie verflogen. Stehe ich wirklich auf der Schwelle zur fünfzig? Ich glaube es nicht.
Bestimmt hat ein Teufel auf Schnellvorlauf gedrückt und das Band meines Lebens im Eiltempo vorgespult.
Weitere Kostenlose Bücher