Arche Noah | Roman aus Ägypten
einfacher und sicherer als die Fahrt mit dem Zug.
Unvermittelt schlug Mabrûk al-Manûfi mit der Faust auf das rechte Knie und hob die schweren Lider.
Für diese Arbeit braucht man Nerven wie Drahtseile. Von dem Stress wird man viel zu früh grau, stellte er fest und strich sichsanft über das schneeweisse Haar. Ich hielt eisern Kontakt zu all meinen Schützlingen, denn ich fühlte mich verantwortlich für jeden Einzelnen. Ich musste sicher sein, dass sie auch tatsächlich an ihrem Ziel angelangt waren. Erst wenn ich die Gewissheit hatte, holte ich die nächste Gruppe aus Ägypten ab.
Doch das Leben ist ein Strom, auf den kein Verlass ist. An einem Tag fliesst er in ruhigen Bahnen, am nächsten Tag tritt er über die Ufer. Einmal kam ich mit zehn Mann in Barcelona an, und plötzlich war auf dem Flughafen alles anders. Das Schlupfloch war dicht. Was tun? Eine Lösung musste her, schliesslich wusste ich, was die Leute alles durchgemacht hatten, um das Geld für die Reise zu beschaffen. Entweder hatten sie einen Bankkredit aufgenommen oder Grundbesitz verkauft. Deswegen war ich bereit, mein Leben aufs Spiel zu setzen, um ihnen zum Erfolg zu verhelfen. Jedenfalls machte ich auf die Schnelle Bekanntschaft mit einem Marokkaner, der am Flughafen arbeitete, und kriegte ihn mit Bestechung tatsächlich rum. Das waren für mich natürlich grosse Verluste, aber am Ende waren wir gerettet, das war die Hauptsache.
Ich musste mir aber etwas Neues ausdenken. Und hier wiederhole ich mich: Phantasie ist einfach alles. Nur sie bringt einen bei der Arbeit und im Leben voran. Na ja, schliesslich bin ich auch ein grosser Künstler.
Ich sattelte auf Polen um. Von da ging’s nach Deutschland und weiter in ein beliebiges EU-Land, selbstverständlich ohne Kontrolle. Später änderte ich die Vorgehensweise: ein Visum für die Ukraine, von dort mit dem Zug in irgendein osteuropäisches Land und dann in die EU. Dieser Weg war bequem und sicher, ausserdem gab es eine gutorganisierte Mafia, die das gesamte ägyptische Volk mit Kind und Kegel hätte umsiedeln können.
Seit den Problemen auf dem Flughafen hatte ich begonnen, meinen Wirkungskreis in alle Richtungen auszuweiten. Nachts im Traum kamen mir lauter Ideen. Und solange der Mensch Ideen hat, findet er Auswege. Einmal schleuste ich eine Gruppe zusammen mit einem berühmten Sänger raus. Keine Ahnung, ob er davon gewusst hat. Ich hatte mich mit seinen Mitarbeitern abgesprochen. Er reiste nach Frankreich, um einen Videoclip zu drehen. Da hängte ich ihm sieben Personen an, indem ich vortäuschte, sie seien für Kamera, Licht und so weiter zuständig. Es klappte, sie bekamen ein offizielles Visum mit Stempel und allem Schnickschnack, der reinste Luxus! Wie die Könige zogen sie los und leben bis heute glücklich und zufrieden drüben.
Ein andermal schaffte ich Leute im Rahmen einer internationalen Messe nach Deutschland. Das lief über eine Ausstellungsagentur. Ich habe Reisewillige auch schon einmal, als Mitarbeiter der internationalen Pyramidenausstellung getarnt, nach Warschau bekommen.
Weil die Sache mit dem Videoclip so schön einfach war und reibungslos funktioniert hatte, baute ich das Ganze aus. Unter dem Vorwand, ich sei Produzent und wolle in Italien einen Film drehen, liess ich mir einen Pass ausstellen. Natürlich müsste ich, so argumentierte ich, mein Team plus Techniker und so weiter mitnehmen, schliesslich könnte ich ja wohl schlecht allein drehen!
Nach zwölf Auslandsaufenthalten brauchte ich jeweils einen neuen Pass, um wegen der vielen, in kurzen Abständen aufeinanderfolgenden Reisen keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Dabei wandelte ich die englische Schreibweise meines Namens jedes Mal ein wenig ab und gab eine andere Adresse an.
Einmal sprach mich auf dem Kairoer Flughafen ein Polizeimajor an, dem ich schon öfter aufgefallen war. »Was machen Sieberuflich genau, Herr al-Manûfi?«, fragte er. Da antwortete ich offen und ehrlich: »Ich helfe Bürgern, Ägypten zu verlassen, damit sie draussen ihr Brot verdienen. Und am Ende kommt auf diese Weise harte Währung zu uns ins Land.« – »Sie sind ein anständiger Kerl, Gott sei mit Ihnen«, sagte er.
Den Seeweg habe ich persönlich nie genutzt, um meine Schützlinge nicht in Gefahr zu bringen. Ich war da immer sehr gewissenhaft. Zum Beispiel habe ich, wenn mich ein junger Mann anheuern wollte, das Gespräch nie ohne seinen Vater oder das Familienoberhaupt geführt. Ich habe die Karten immer offen auf den Tisch
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