Arche Noah | Roman aus Ägypten
Erkundungsreise, ich wollte einen neuen Weg ausloten. Zwei Wochen dort, und ich lernte eine Schlepperbande kennen. Sie fuhren uns mit dem Wagen ins letzte Dorf in Jugoslawien. Von dort ging’s zu Fuss weiter durch die Berge. Man gab uns einen Führermit auf den Weg, der sagte, dass wir nach einem sechsstündigen Marsch in ein italienisches Dorf kämen. Dort würde, wie für hohe Herrschaften bestimmt, ein Wagen bereitstehen und uns zum Bahnhof bringen.
Die Sache schien leicht und gut organisiert zu sein. Doch dann stellte sich heraus, dass der Führer selbst einen Führer nötig hatte. Wir brachen um zehn Uhr abends auf, der Mann verlief sich, und wir irrten umher. Eine schreckliche Nacht war das, gefolgt von einem noch schrecklicheren Tag. Irgendwann wurde das Wasser knapp, und dann ging der Kampf los. Um jeden Tropfen haben wir uns gekloppt. Das war’s, dachten wir, der Todesengel Asraîl lauert in den jugoslawischen Bergen auf uns.
M abrûk al-Manûfi schaute in die Runde und betrachtete die vielen Leute aus seinem Dorf, die im Garten sassen. Dann blickte er hoch und sah einen grossen Vogel über sich kreisen.
Das war einmal, stellte er mit einem weisen Klang in der Stimme fest. Wir haben für Land und Leute Geschichte geschrieben und sind nun selbst in die Geschichte eingegangen, denn inzwischen hat sich die Europakarte verändert. Heute fährt man von Österreich nach Italien, ohne aufgehalten zu werden. Ein Visum für Osteuropa zu bekommen ist nahezu unmöglich. Ein Transitvisum für Spanien, das man früher problemlos erhielt, ist ein unerreichbarer Traum geworden, ein Schengenvisum sowieso. Die Wege, die heutzutage noch gangbar sind, sind sehr kostspielig. Deshalb ziehen inzwischen alle den Seeweg vor. Ich jedenfalls habe meinem Land gottlob grosse Dienste erwiesen.
Sag nichts, Ghûl.
G hûl lächelte. Wie ein Sänger, der sein Publikum begrüsst, schlug er sich mit der Hand an die Brust. Seine Stimme hallte beim Sprechen wie aus unergründlichen Tiefen. Deshalb wurde er Ghûl, Ungeheuer, genannt, obwohl er ein schönes, ebenmässiges Gesicht hatte.
Mabrûk al-Manûfi ist ein Segen für uns alle. Ohne ihn sähe es hier im Ort wohl ziemlich trist aus. Kein Haus wäre gebaut, kein Geschäft gegründet worden, keine Ehe zustande gekommen. Seinem Ideenreichtum, seinem Einsatz und seiner Unerschrockenheit verdanken wir alles. Jeder Millime, der in unsere Taschen fliesst, ist ihm geschuldet.
Landwirtschaft bringt nichts mehr ein. Wo also kommt das Geld her? Von all den Reisen, die er organisiert, natürlich! Seht mich an, ich bin das beste Beispiel!
Kurz nachdem ich das Diplom gemacht hatte, starb mein Vater. Ich bin der Älteste, also sagte meine Mutter: »Ghûl du kannst nicht weggehen, du trägst jetzt die Verantwortung für uns.« Ich fand einen Job in Scharm al-Scheich, in einem Hotel am Badestrand. Im Wechsel war ich einen Monat dort und einen hier. Was ich in Scharm al-Scheich verdiente, ging hier restlos drauf. Alle meine Kumpels mit Uniabschluss sassen arbeitslos rum und warteten, dass unser lieber Mabrûk ihr Problem löste. Harte Zeiten! Und die wenigen, die Arbeit hatten, konnten von ihrem Lohn nicht einmal die Grundkosten decken.
Also ging ich eines Tages zu meiner Mutter. »Das ist kein Zustand«, sagte ich. »Bei den vielen Mäulern, die ich zu stopfen habe, muss ich hier weg. Mabrûk wird’s richten.« Ich suchte ihn auf und versprach, meine Rechnung zu begleichen, sobald ich draussen etwas verdiente. Er war einverstanden. »Ich schicke dich nach Frankreich, Junge«, sagte er.
Gesagt, getan. Los ging’s vom Kairoer Flughafen zusammen mit sechs anderen, in der Tasche hatten wir ein Ticket Kairo–Barcelona–Málaga–Casablanca. Mabrûk hatte den Plan genau ausgetüftelt. Wir sollten bis nach Málaga fliegen und uns erst dort aus dem Flughafen stehlen, denn das Schlupfloch in Barcelona gab es nicht mehr. Während wir aber in Barcelona auf den Anschlussflug warteten, wurde ich festgenommen, als Einziger. Mein Pech!
Ein Offizier kam, packte mich und führte mich in sein Büro. Meine Rettung war das marokkanische Visum im Pass. »Aha, Sie sind also auf der Durchreise«, stellte er fest. »Und wohin geht’s?« – »Nach Casablanca.« Ob ich im Flugzeug der Einzige mit Transitaufenthalt in Barcelona war, wollte er wissen. »Ja«, sagte ich.
Wieder draussen, suchte ich meine Kumpels, doch sie hatten sich in Luft aufgelöst. Später erfuhr ich, dass sie sich aus der Transithalle und dem
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