Arche Noah | Roman aus Ägypten
gelegt. »Vielleicht wird Ihr Sohn gefasst und abgewiesen«, sagte ich dem Vater klipp und klar. »Zumindest aber kriegen Sie ihn heil wieder. Kommt er jedoch durch, dann wird er es mit Gottes Segen gut haben.« Die Leute wussten also genau, dass sie sich auf ein Risiko einliessen, aber ein finanzielles, kein physisches. Hin und wieder passierte es, dass einer geschnappt und zurückgeschickt wurde, das kommt in den besten Familien vor. Aber ich schwöre Stein und Bein, dass ich ihn zu einem späteren Zeitpunkt doch noch rausgeschafft habe. Ich bin ein äusserst aufrichtiger und verantwortungsbewusster Mann und fühle mich meinem Volk verpflichtet. Meine Landsleute liegen mir sehr am Herzen.
Ich muss aber ehrlich sagen, dass aus unserem Dorf zwei Männer ums Leben gekommen sind. Das liegt allerdings lange zurück, es ereignete sich noch vor dem Wahnsinn, der vor sechs Jahren begann. Ich meine den Wahnsinn, das Land übers Meer zu verlassen. Auch ich selbst hab einmal fast ins Gras gebissen, aber es ist noch einmal gutgegangen. Über Leben und Tod entscheidet Gott allein.
Der Erste, der starb, hiess Abdalhamîd, Gott hab ihn selig. Ich werde ihn nie vergessen, ein Prachtkerl, gross, breitschultrig, aberauch ängstlich. Spanien war passé, der Flughafen war verriegelt, absolut dicht, da war nichts mehr zu machen. Deshalb sah ich für Abdalhamîd eine andere Route vor. Allein fuhr er nach Ungarn und weiter nach Österreich. Im letzten Ort vor der Grenze stieg er aus. Meine Kumpel dort erklärten ihm genau, wie er mit dem Zug nach Italien kommt. Eins, zwei, drei, erläuterten sie ihm jeden einzelnen Schritt. Doch im letzten Moment machte er einen Rückzieher. »Das geht nicht gut«, wehrte er ab. »Die werden mir an der Nasenspitze ansehen, dass ich Angst habe.« Nach einigem Hin und Her beschloss er, den Tunnel nach Italien zu Fuss zu passieren.
»Mach das nicht, Mîdo«, warnten ihn die anderen. »Der Tunnel ist lang und stockdunkel. Das ist gefährlich!«
»Nein, so komme ich besser über die Grenze als mit dem Zug oder mit dem Auto.«
»Im Tunnel ist es eng, Mîdo. Wenn der Zug kommt, dann gute Nacht.«
»Nein, die kriegen mich. Ich bleibe dabei, ich werde vor dem Zug herrennen, so schnell ich kann.«
Bevor der Zug abgefertigt wurde, verschwand er im Tunnel. Und das war’s. »Sag: Uns wird nur treffen, was Gott uns bestimmt hat«, 42 wie es im Koran heisst.
Nach der Sache mit Abdalhamîd habe ich lange nach einer neuen Methode gesucht, bis ich endlich eine fand. Die war phantastisch! Ich setzte meinen Schützling in einen Güterzug und gab ihm Meissel und Hammer in die Hand. Er wurde in einem Waggon eingeschlossen, alles in Absprache mit dem Bahnhofsvorsteher. Die Fahrt von Ungarn nach Italien dauerte zwölf Stunden. Im Waggon konnte der Mann essen, trinken und aufs Klo gehen, wieer lustig war. Nach vier Stunden begann er, den Boden aufzuschlagen. Acht Stunden lang musste er hämmern. Als der Zug hielt, sprang der Mann raus und war in Italien.
Der zweite Todesfall war Schicksal, es war dem armen Kerl so vorbestimmt. Abdalmalâk, so hiess er, reiste mit einer grösseren Gruppe. Die Methode war erprobt und hatte bisher jeden an sein Ziel gebracht. Ich verfrachtete die Männer in einen Kühlwagen, der Fleisch geladen hatte. Alle kamen wohlbehalten in Italien an, nur Abdalmalâk nicht, er war unterwegs erfroren. Offenbar war er gesundheitlich angeschlagen gewesen. Im Grunde war er zeitlebens schon ein kränklicher, schwacher Typ gewesen, das hatte sich schon an seiner Stimme gezeigt. Er sprach so leise und verhalten, dass man ihn kaum hören konnte. Irgendwie war er schon von Anfang an dem Tod geweiht. Gott hab ihn selig. Aber er hat sich im Wagen ja auch nichts anmerken lassen. Nicht einen Mucks hat er von sich gegeben, dieser arme Irre. Im Dorf war grosse Trauer angesagt. Aber ich hatte als Einziger den Mut, seinem Vater unter die Augen zu treten und ihm mitzuteilen, wie es passiert war. Er hat mir meine Courage hoch angerechnet. Bald darauf schaffte ich seinen zweiten Sohn aus dem Land – für den halben Preis, in Raten bezahlt. Und dieser holte dann den jüngeren Bruder nach.
Ich dagegen begegnete dem Tod in Jugoslawien. Natürlich weiss ich, dass das Land aufgeteilt wurde. Aber was das sollte, ist mir schleierhaft, ein fürchterliches Durcheinander! Für mich ist und bleibt das Jugoslawien und basta! Sollen sich meine Kinder damit befassen, was dort passiert ist. Jedenfalls war das Ganze eine
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