Arche Noah | Roman aus Ägypten
vierunddreissig Jahre alt war.
Seit ich mich erinnern kann, hat der Platz immer so ausgesehen, verändert haben sich nur die Namen einigerGeschäfte. Hierher kam ich oft mit Mutter, denn sie verfolgte gern die Versteigerungen im Auktionshaus.
»Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten. Herzlichen Glückwunsch, Frau Halîma. Eine echte Sèvres-Vase für achtundzwanzig Pfund.«
Von hier stammen so einige unserer Einrichtungsgegenstände, die mir viel bedeuten. Herr Maurice, stets im schwarzen Anzug und mit roter Krawatte, leitete das Haus. Er hatte die Angewohnheit, meine Mutter unmittelbar vor den Auktionsterminen anzurufen, damit sie vorab zu einem festgesetzten Preis kaufen könnte. Auf diese Weise kam allerdings nur Göttin Bast in unseren Besitz.
An diesem Platz kauften wir ausserdem bei einem türkischen Schifffahrtsunternehmen Tickets für die Überfahrt nach Noworossijsk. Wir liefen in Alexandria aus und fuhren über Athen und Istanbul zu unserem Zielhafen. Weiter ging es mit dem Zug nach Wolgograd, wo uns der Cousin meiner Mutter in Empfang nahm und nach Samara zu sich nach Hause brachte. Seinen Sohn habe ich gleich ins Herz geschlossen. Auch wenn ich ihn seither nicht mehr gesehen habe, so ist mir sein Gesicht trotzdem noch deutlich in Erinnerung. Es war eine unvergessliche Reise an Deck der »Karadeniz«, was – so weiss ich von den türkischen Seeleuten – »Schwarzes Meer« bedeutet. Während der Überfahrt hielt ich mich hauptsächlich im Schwimmbad auf, einem kleinen Becken aus Metall mit einer Abdeckung, die, ebenfalls aus Metall, an jeder Seite mit einem riesigen eisernen Riegel versehen war.
Auf der Überfahrt quälte mich ein Albtraum. Ich schwimme im Pool, und auf einmal bin ich dort ganz allein.Die Matrosen ziehen die Abdeckung über das Becken. Es wird dunkel. Ich höre, wie die Riegel geschlossen werden, höre, wie das Eisen quietscht. Das Wasser steigt langsam. Ich versuche zu atmen. Das Wasser erreicht die Abdeckung. Ich schreie. Aber es kommt keiner.
M ein Mann liess sich von mir scheiden, nachdem unsere Beziehung still dahingeschieden war. Jahrelang hatte ich ihrem langsamen Sterben zugesehen, ohne dass ich sie hätte retten können. Schliesslich war ich keine Ärztin, und das Studium der deutschen Sprache wie auch meine Berufserfahrung im sozialen Bereich halfen auf der Intensivstation nicht weiter. So musste ich tatenlos zusehen, wie unsere Ehe im weissen Bett lag und ihr Leben aushauchte. Lautlos entwich die Luft durch ein kleines, unsichtbares Fenster. Jeden Tag ein bisschen Sauerstoff weniger, bis wir eines Tages erwachten und uns im Haus jede Luft zum Atmen fehlte.
Mit Nâdias Geburt gab ich meine Arbeit im Zentrum auf. Gleichzeitig tat ich einen der wichtigsten Schritte in meinem Leben: Ich fing an, Tagebuch zu schreiben. Jede Gefühlsregung, jeden Blick, jeden Anflug von einem Lächeln auf Nâdias Lippen dokumentierte ich. Sie beherrschte meine Sinne voll und ganz. Indem ich das leiseste Zucken ihrer Nasenspitze aufzeichnete, öffnete sich mir das Fenster zur Welt. Plötzlich sah ich das Leben mit neuen Augen, ich erkannte seine Grossmut und seinen Geiz und füllte, regelrecht abhängig von dem Schreibritual und der Liebe zu meinem Stift, ein gelbes Büchlein nach dem anderen.
Obgleich ich die letzten Tage meiner Ehe zählte und nur noch auf den Gnadenstoss wartete, schmeckte das Ende bitter.Bezeichnenderweise fällten wir die Entscheidung, uns zu trennen, bei einer verhaltenen Diskussion am Telefon. War die direkte Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen, die über ein Jahrzehnt das Bett geteilt hatten, tatsächlich so schwer?
Als ich auflegte, machte sich in dem Finger, mit dem ich auf den roten Knopf gedrückt hatte, ein leichtes Kribbeln bemerkbar. Es stieg weiter auf, in die rechte Hand, das Handgelenk, den Unterarm, hinauf in die Schulter, weiter in die Wange, die Augen und die Stirn. Dunkelheit zog auf, verdichtete sich zu einer schwarzen Wolke und breitete sich aus. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, und merkte, dass sie geöffnet waren, also liess ich die Finsternis auf mich wirken, ergab mich ihr. Das Kribbeln griff auf die Brust über und erfasste in Lichtgeschwindigkeit meinen ganzen Körper. Das Blut erstarrte in den Adern. Wie ein Heer von Ameisen befiel das Kribbeln meine Nerven, und ich verlor jedes Gefühl in den Gliedern. Mühsam schnappten meine Lungenflügel nach Nahrung. Ich legte die Hand unter das Gesäss, um sie wieder zu spüren, doch es war, als
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