Arche Noah | Roman aus Ägypten
wäre, entschied jedoch, dass es keiner war, sondern dass ich mich einfach nur meinem Schicksal fügte und zu meinem Schöpfer zurückkehrte. Ich rezitierte die Fâtiha und öffnete mit letzter Kraft den Kanister. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass er mit Benzin gefüllt war. Das gab mir den Rest. Ich liess den Kanister los und ging unter. Die Augen weit aufgerissen, ohne aber etwas zu erkennen, sank ich tiefer und schluckte dabei Salzwasser. Plötzlich fühlte ich, wie ich wieder an die Oberfläche stieg. Der Kanister schwamm noch an derselben Stelle, als hätte er auf mich gewartet, ich konnte es kaum glauben. In dem Moment wusste ich, dass ichnicht sterben würde und dass Gott, der Erhabene, das Wasser im Kanister in Benzin verwandelt hatte, damit ich am Leben bliebe.
Ich habe keine Ahnung, wie die Zeit verstrich, irgendwann ging die Sonne wieder auf. Wahrscheinlich hatte ich, mein Plastikkissen fest umklammert, tief geschlafen. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich überall auf dem Wasser Leichen treiben. Erneut geriet ich in einen starken Strudel. Immerzu drehte ich mich inmitten der Leichen. Auf einmal beruhigte sich die See, und ich hatte das Gefühl, weiter aufs offene Meer gezogen zu werden.
Wie mir zumute war, weiss Gott allein. Mein linkes Bein liess sich nicht mehr bewegen, mein Hals war wie gelähmt. Kurz darauf merkte ich, dass auch mein rechtes Bein schlaff hinunterhing. Angst erfasste mich, sie wurde zu Panik, als mein Bein etwas berührte. Ich dachte, dieses Etwas würde mich verschlingen oder wie ein Strudel hinunterziehen. Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass ich auf Grund gestossen war. Ich schleppte mich an Land und brach ohnmächtig zusammen.
W ie in alten ägyptischen Filmen, in denen sich jemand in der Wüste verirrt, tauchte plötzlich ein vermummter Araber in weisser Tracht auf. Er trat an Jassîn heran und flösste ihm einen Schluck Wasser aus seinem ledernen Trinkbeutel ein. Dann liess er ihn schlafen und setzte sich neben ihn, während sein Kamel in die Ferne schaute. Irgendwann kam Jassîn, von unheimlichen Geräuschen geweckt, die er weder identifizieren noch orten konnte, zu sich. Er versuchte, die Augen zu öffnen, vergeblich. Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. War er im Himmel oder in der Hölle? Würde er Wahdân, Saksûka, Akâscha, Taha und Muhammad wiedersehen?
Jassîn glaubte, er sei tot, und war sich dessen umso sicherer, als er plötzlich in der Luft schwebte und sein Gesicht von einer Brise umspielt wurde. Als er kurz darauf wieder auf festem Untergrund lag, setzte Motorenlärm ein. Er schaffte es, die Augen zu öffnen, und sah, dass er sich in einem Krankenwagen befand. Da erkannte er, dass er nicht tot war.
Während der ganzen Fahrt gab er keinen Ton von sich. Reglos und scheinbar taub, reagierte er auf keine der Fragen, die ihm die Männer im Wagen stellten. Auch im Krankenhaus schwieg er beharrlich. Kaum aber hörte er den Arzt reden, der ihn untersuchen wollte und unverkennbar Ägypter war, brach er in Tränen aus. Alle seine unterdrückten Gefühle machten sich plötzlich Luft.
Eine Stunde später sass Jassîn im Polizeiauto auf dem Weg in ein Spezialgefängnis des Grenzschutzes. Nachdem sich ein libyscher Offizier davon überzeugt hatte, dass er körperlich unversehrt war, liess er ihn in eine stockfinstere Zelle sperren. Dort empfing ihn Akâscha mit offenen Armen. In dem Verlies sassen alle, die gerettet worden waren. Von den sechsundachtzig hatten siebenundzwanzig Ägypter und Marokkaner überlebt.
Am nächsten Morgen wurden sie aus der Zelle geholt, um die Toten zu identifizieren. Jassîn bat einen Offizier um Schuhe und ein Hemd, doch man liess ihn, nur mit einem zerrissenen Unterhemd der Marke Jil bekleidet, barfuss gehen. Er identifizierte die Leichen von Schâkir, Wahdân und anderen, die mit im Haus des Hauptmanns Gamâl Ali gewesen waren. Er suchte Saksûka, fand ihn aber nicht. Dann wurden sie verhört.
»Name?«
»Nationalität?«
»Wer hat die Reise organisiert?«
»Wo ist Ihr Reisepass?«
»Wer hat Ihnen hier in Libyen geholfen?«
»Wohin sollte die Reise gehen?«
»Wann sind Sie in Libyen eingereist?«
»Wie sind Sie ins Land gekommen?«
»Wie viel Uhr war es?«
»Wo haben Sie sich die paar Tage in Libyen aufgehalten?«
»Ist Ihnen klar, dass Sie eine Straftat begangen haben?«
Nach dem Verhör wurden sie zur Volksmiliz gebracht, wo man ihnen die gleichen Fragen stellte. Anschliessend wurden sie der
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