Arche Noah | Roman aus Ägypten
besten, noch bevor er ins Ausland ginge, sich an den Umgang mit fremden Währungen zu gewöhnen. Er könnte beispielsweise das Bildungsministerium ersuchen, die Gehälter künftig in Euro auszuzahlen. In seinem Fall wären das etwa fünfzig Euro. Damit könnte er … Jassîn überlegte, aber ihm kam keine Idee, was er mit diesem »Batzen« Geld hätte anfangen können. Deprimiert faltete er die Zeitung zusammen, dabei fiel sein Blick auf die Titelseite. Die israelische Regierung habe am Vortag beschlossen, las er, sämtlichen hochrangigen Palästinensern das Sonderrecht auf Bewegungsfreiheit zwischen dem Westjordanland und dem Gasastreifen abzuerkennen. Jassîn musste über seine Vermessenheit schmunzeln. Palästinensische Politiker durften sich nicht einmal im eigenen Land frei bewegen, und er war so unverfroren, nach Europa auswandern und wie die Spieler des Ismaily SC Euros verdienen zu wollen. Wie unverschämt von ihm! Aber das würden die Abendländerschon zu unterbinden wissen. Bald würden sie ihn auch von Kairo fernhalten, indem sie um Itâi al-Barûd eine Absperrung zogen, die kein Mikrobus durchbrechen könnte. Womöglich wäre ihm dann auch jeder Schritt aus dem Dorf hinaus untersagt. Eine Anordnung des Weissen Hauses auf weissem Hochglanzpapier, erlassen von einem Mann mit weissem Herzen, mit folgendem Wortlaut: »Jassîn al-Barûdi ist es strengstens verboten, sich mehr als zwanzig Meter von seinem Schlafzimmer zu entfernen.« Erleichtert dankte Jassîn dem lieben Gott, dass wenigstens sein Bad gleich nebenan lag. In dem Moment hörte er den Arzthelfer seinen Namen aufrufen.
D oktor Nivîn Adli ist urologische Chirurgin und Professorin im Kasr-al-Aini-Universitätsklinikum. Vormittags lehrt sie und praktiziert in der Poliklinik, mittags operiert sie, nachmittags kommt sie ihrer Rolle als Mutter nach, und abends sitzt sie an dem antiken Holzschreibtisch mit Perlmutt- und Elfenbeinintarsien, den sie samt der Praxis im Kairoer Zentrum von ihrem Vater geerbt hat. Die vielen von Vater und Onkel an den Wänden hinterlassenen gerahmten Zeugnisse und Fotos reflektieren das Licht: Zeugnisse aus Frankreich, England und den USA und Familienfotos in Schwarzweiss, Doktor Nivîns bevorzugtem Farbton. Das älteste Foto stammt aus den Vierzigern: der Vater im Kreise seiner Kommilitonen an der medizinischen Fakultät. Das jüngste der Sammlung ist vermutlich jenes, auf dem der Vater in Anwesenheit von Präsident Gamâl Abdel Nasser den Staatsorden entgegennimmt, der ihm für seine wissenschaftlichen Verdienste auf dem Gebiet der Urologieverliehen wurde. Im Schutz der Ahnen, deren Geist wachend über ihr schwebt, empfängt Doktor Nivîn bis Mitternacht Patienten. Sie ist fest davon überzeugt, dass Gott sie zur Königin der Heilkunde erkoren hat. Bevor sie heimgeht, verabschiedet sie sich jeden Abend von ihrem Vater. Sanft streicht sie über sein Foto, das in einem Rahmen aus purem Gold auf dem Schreibtisch steht. Zu Hause schaut sie als Erstes nach den Kindern, Sylvia, Michael und Carol, die bereits fest schlafen, wenn sie kommt. Dann schleicht sie auf Zehenspitzen hinaus und geniesst das königliche Mahl bei Kerzenlicht, das ihr Ehemann, Nabîl Scharubîm, bereitet hat.
Doktor Nivîn ist wie eine deutsche Maschine mit japanischem Motor, amerikanischer Software und französischer Verkabelung, also auf dem allerneuesten Stand. Tief im Herzen aber ist sie von unverfälscht ägyptisch-koptischer Prägung, die auf einer jahrtausendealten Geschichte fusst.
D ass sich ein so attraktiver Mann wie Jassîn al-Barûdi in die Praxis verirrt, kommt nur äusserst selten vor. Er müsste zum Film gehen, er sieht Rushdy Abaza 28 zum Verwechseln ähnlich. Keine Ahnung, wann ich ihn zuletzt gesehen habe. Jedenfalls kam er mir heute in den Sinn, kaum dass dieser Jassîn das Sprechzimmer betrat. Ich fasste es nicht, ein armer Schlucker von Bauer und so gutaussehend! Dabei hatte ich immer gedacht, dass Schönheit von der sozialen Schicht abhängig ist. Na ja, da muss ich meine Meinung wohl revidieren. Ich habe den knackigen Kerl zu Doktor Schindi geschickt, damit er ihn untersucht und gegebenenfalls auf die Spenderliste setzt, die im Übrigen täglich länger wird.Ich überlegte, Scharîf Chairat anzurufen und ihm vorzuschlagen, sich diesen Jassîn einmal näher anzusehen und ihm vielleicht eine Rolle in einem Film zu geben. Es ist entsetzlich, aber dieser arme Schlucker heute hat tatsächlich geglaubt, dass ich ihm eine Niere abkaufen
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