Arche Noah | Roman aus Ägypten
randvoll sein muss, wird ein Glas deinen Durst bald nicht mehr stillen können. Als Nächstes wirst du eine ganze Flasche brauchen, dann einen laufenden Wasserhahn und immer so weiter. Bescheide dich mit dem Wasser im Glas, so wie sichdeine Kinder mit ihrem Leben in diesem Land bescheiden müssen. Das Wasser in der ausländischen Flasche dagegen ist so eine Sache, von dem weiss keiner, ob es auch wirklich trinkbar ist. Womöglich sieht die Flasche äusserlich gut aus, doch ihr Inhalt ist vergiftet. Gib dich mit dem Schluck in dem Glas da zufrieden, meine Tochter.«
Nivîn setzte das Glas an die Lippen und trank bedächtig. Ihr war, als trinke sie aus einem grossen, vollen Krug, und schon war ihr Durst so gelöscht wie nie zuvor. Geläutert kehrte sie heim. Sie hatte das Gefühl, sich nicht nur satt getrunken, sondern regelrecht satt geatmet zu haben. Plötzlich war die Beklemmung verschwunden, die ihre stete Angst vor der Zukunft angetrieben hatte. Frieden kehrte in ihr ein, und sie hörte auf, nach der vollen, eisgekühlten Flasche namens Kanada zu schielen. Doch dann, sie waren erst wenige Tage zurück in Kairo, ereignete sich etwas, das sie nie für möglich gehalten hätte.
Was am 25. Mai 2005 um 13 Uhr 05 geschah, veranlasste Doktor Nivîn, auf der Stelle einen Antrag auf Einwanderung nach Kanada zu stellen. An dem Tag ging Laila Scharubîm, Journalistin bei Associated Press, zusammen mit ihrer Cousine Sylvia und ihrer Freundin Suâd Hussain ins Stadtzentrum, um die Ereignisse vor Ort mitzuverfolgen. Die regierende Partei hatte nämlich ein Referendum über die Änderung des Artikels 76 der Verfassung angesetzt. 30 Wie immer bei solchen Anlässen glich Kairo einerKaserne. Ausserdem wimmelten die Strassen von Polizisten in Zivil. Willkürlich wurden unbescholtene Bürger kontrolliert, nur weil sie das Pech hatten, im falschen Moment am falschen Ort zu sein. Doch als Laila, Sylvia und Suâd die Abdalchâlik-Tharwat-Strasse entlangliefen, wollte es der Zufall, dass sich dort gerade kein einziger Sicherheitsbeamter aufhielt.
Und da geschah es. Vor einer Zoohandlung, die zu dem Zeitpunkt geschlossen war, fielen wie aus dem Nichts drei Männer über sie her. Das Glied in der Hand, baute sich einer direkt vor Sylvia auf und fixierte sie, während er masturbierte. Der Zweite grapschte Laila stöhnend an die Brust und zog gleichzeitig an dem goldenen Kreuz, das sie um den Hals trug. Der Dritte packte Suâd von hinten, riss ihr Kopftuch herunter und fasste ihr unter das Kleid. Der Erste presste sich an Sylvia, brüllte sie an und betatschte mit der Hand, mit der er eben noch masturbiert hatte, ihr Gesicht. Sie klammerte sich an Laila, schloss die Augen, schaltete ihren iPod ein und liess sich Metallicas Song St. Anger ’round my neck in die Ohren dröhnen.
D iesen Tag vergesse ich nie im Leben. Ich machte mir schreckliche Sorgen um Sylvia, dieses kleine, zarte Wesen. Sie war noch keine sechzehn. Ich hatte ja keine Ahnung, dass das solche Dimensionen annehmen könnte. Schlägertypen, bezahlt vom Sicherheitsapparat, mit dem Auftrag, Frauen sexuell zu belästigen und sich an Passanten und Demonstranten zu vergreifen. Das Schlimme ist, dass diese Rowdys absolut skrupellos sind, sie hätten uns sonst was antun können. Nachdem ich mich beruhigt hatte, begriff ich erst, was da eigentlich passiert war. Eine überaus clevere und originelle Idee,fand ich. Für so viel Kreativität hätten sie vom Kulturministerium eine Auszeichnung verdient. Sexuelle Übergriffe zur Zerschlagung von Demonstrationen, wirklich genial! Sie haben aus ihren Erfahrungen gelernt. Brandschatzungen hatten in der Vergangenheit nur zu Aufständen geführt, mochte sich die Regierung gesagt haben. Also machen wir es diesmal auf die sanfte Tour – Küsse, Stöhnen, Grapschen, das sind die neuen Methoden, Waffen, mit Vaseline geschmeidig gemacht. So setzt man heutzutage Verfassungsänderungen durch. Und das alles, damit unser Süsser da oben glücklich ist. Wir gingen nach Hause. Sylvia war in einem Schockzustand, ja geradezu traumatisiert. Sie konnte nicht weinen, nicht schlafen, starrte nur leer vor sich hin. Ihre Augen kamen mir vor wie zersplittertes Glas. Ich überliess sie Tante Nivîn. Wahrscheinlich hat sie ihr eine Beruhigungsspritze gegeben.
G leich am nächsten Tag stellten Nabîl und Nivîn in einem Beratungsbüro für Emigrationsfragen einen Antrag auf Einwanderung nach Kanada. Unzählige Dokumente hatten sie noch am Abend des
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