Arche Noah | Roman aus Ägypten
einen ungesüssten schwarzen Kaffee. Dann legte er ihm die Hand auf den Kopf und rezitierte Verse aus dem Koran: »Hat denn der Mensch nicht gesehen, dass wir ihn aus einem Tropfen erschaffen haben? Und da ist er deutlich Widersacher. Er prägt für uns einen Vergleich und vergisst, dass er erschaffen ist. Er sagt: ›Wer schenkt den Knochen Leben, wenn sie morsch sind?‹« 38 Seit dieser Berührung verschlangen sich Nabris und Tîfas Lebenswege. Sie wurden unzertrennliche Freunde.
Beide bestimmten ihren Tagesablauf weitgehend selbst. Nabris einzige Verpflichtung bestand darin, abends in der Diwanîja Kaffee zu servieren. Auch Abdallatîf arbeitete ausschliesslich am Abend, denn Talaat, dem in Kuwait ein Tag vorkam wie ein Jahr und ein Monat wie ein Jahrhundert, stand erst nachmittags auf und wartete auf Godot.
Jeden Morgen trafen sich die beiden neuen Freunde zu einer Spritztour mit Talaats Wagen, den Tîfa jederzeit benutzen durfte, zumal er einen amerikanischen Führerschein besass. Zweck der Rundfahrten war, Nabris Cousin Abdalhamîd, der seit über einem Jahr verschwunden war, ausfindig zu machen. Als Erstes besuchten sie den Verein Nubisches Haus und den Verband der Nubier in Kuwait. Auf der Suche nach der Nadel im Heuhaufen lernten sie viele Ägypter kennen. Sie erfuhren, dass schon etliche in derFremde gestorben waren, und rezitierten für alle, die fern der Heimat begraben worden waren, die Fâtiha.
T alaat erwachte früh am Morgen und sah, dass es in Strömen regnete. Er hatte Lust, durch den Regen zu joggen, also zog er seine Sportsachen an, küsste Frau und Kinder und verliess die kleine, zauberhafte Wohnung mit Blick auf den Pazifik, die er während der Schulferien für einen Monat in einer Küstenstadt im äussersten Westen der USA gemietet hatte. An den Namen der Stadt konnte er sich nicht mehr erinnern, aber er wusste noch, dass sie dort ungefähr ein Jahr vor seinem Umzug nach Kuwait gewesen waren.
Kaum hatte er einen Schritt vor die Tür gesetzt, schauderte er vor Kälte, doch er liess sich davon nicht abschrecken. Er nahm einen tiefen Atemzug, der seine Luftröhre fast zu einem Eiszapfen gefrieren liess, und setzte sich langsam in Bewegung. Ziellos lief er durch die unbekannte Stadt, bis er die Orientierung vollends verloren hatte. Er kam an ein grosses schmiedeeisernes Tor mit tulpenförmigen Verzierungen, hinter dem sich ein endlos weiter Garten erstreckte. Das Grün glitzerte unter den sanft vom Himmel fallenden Wasserkristallen. Überall ragten Bäume in schwindelerregende Höhe auf und streichelten mit den Zweigen die Wolken, um ihnen weitere Regentropfen zu entlocken. Sandwege, gesäumt von römischen Statuen aus weissem Marmor, schlängelten sich durch die hügelige Landschaft.
Weil die Quellen im Himmel versiegt waren oder die Zweige die Wolken nicht mehr streicheln wollten, hörte es plötzlich auf zu regnen. Der Nebel lichtete sich allmählich, und da erst merkte Talaat, dass er sich auf einem Friedhofbefand. Die Grabsteine um ihn herum zeugten von Männern und Frauen, die im vergangenen Jahrhundert gestorben waren.
Talaat lief weiter. In einiger Entfernung sah er einen grauen Halbmond, angestrahlt vom Tageslicht. Noch ein Halbmond zeigte sich und noch einer. Je weiter er sich den Halbmonden näherte, desto mehr wurden es. Jeder gehörte zu einem Grabstein, und darunter standen Namen, die ihm vertraut waren.
Er hielt inne, setzte den rechten Fuss auf zartgrünes Gras, trat an einen Grabstein heran und las: »Talaat Dhihni, gestorben am 18. März 1958«. Ihm stockte das Herz, die Knie zitterten ihm, beinahe stürzte er. Er liess sich zwischen den Grabsteinen nieder. Arabische, iranische und indische Namen waren in den Marmor graviert und mit islamischen Ornamenten verziert. Talaat warf einen Blick nach links und sah, dass sein direkter Nachbar auch in Kairo geboren und 2005 hier gestorben war. Da wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er in einem fremden Land sterben könnte. Es war durchaus möglich, dass er hier sass – mutterseelenallein wie immer – und der Todesengel Asraîl plötzlich auf die Idee käme, seine Seele zu holen. Dann würde er an einem schönen, aber kalten und fremden Ort wie diesem begraben werden. Die Vorstellung war ihm unerträglich. Wie konnte Talaat 1958 hier beerdigt worden sein? Warum war Ibrahîm hier und nicht in seiner Geburtsstadt Kairo beerdigt worden? War er selbst dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit in der Fremde zu leben? Talaat versuchte,
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