Arche Noah | Roman aus Ägypten
sich zu bewegen, aber es ging nicht. Die Sehnsucht hatte ihn gelähmt.
T alaat quälte die Vorstellung, dass Anwar die Haft in den USA nicht überstehen und womöglich im Gefängnis sterben könnte. Deshalb wollte er alles tun, um ihm beizustehen. Auch wenn es ihm masslos widerstrebte, rief er als Erstes ihren dritten Kompagnon an, den Oberfeigling Gamâl, der sich über fünf Jahre zuvor aus dem Staub gemacht hatte. Dessen Vater wäre wahrscheinlich am ehesten in der Lage, Anwar zu helfen.
Gamâl sass gerade am See im Londoner Hydepark auf einem Liegestuhl, den er für zwei Pfund gemietet hatte, in der Hand seine Kamera, die er wie einen weiteren Körperteil immer bei sich trug. Während er darauf wartete, dass die Demonstration gegen Robert Mugabe beginnen würde, las er das Flugblatt, das er bekommen hatte. Darauf war die zynische Erklärung abgedruckt, die der Präsident von Simbabwe am 15. September 2005 abgegeben hatte. Sein Volk lebe in einem Zustand höchster Zufriedenheit, in Simbabwe müsse keiner verhungern, allerdings sei die Bevölkerung nicht gewillt, ihre Essgewohnheiten umzustellen. Der Staat produziere Unmengen an Mais und Kartoffeln, doch das Volk verschmähe diese leider. Gerade als sich ein seltener Vogel direkt vor ihm am Seeufer niederliess, klingelte das Handy. Gamâl zögerte. Sollte er ans Telefon gehen oder lieber den Vogel fotografieren? So ein Exemplar hatte er in London noch nie gesehen. Schliesslich drückte er doch auf den grünen Knopf, weil er befürchtete, die Demonstration könnte verschoben worden sein.
»Gamâl, wie geht es dir?«
»Gamâl, wer soll das sein? Ich heisse Jimmy. Bei deiner Stimme bekomme ich direkt einen Flashback, Talaat. Mein Hirn hat alles ausgeblendet, was vor der Hidschra liegt.«
»Vor der Hidschra? Der Auswanderung des Propheten?«
»Nein, vor dem Exodus des ägyptischen Volkes.«
»Noch sind nicht alle ausgewandert.«
»Das kommt schon noch, du wirst sehen. Und alle werden Farbe, Religion, Namen, Beruf und Angewohnheiten ändern – genau wie ich. Verzeihung, wer spricht da gleich noch mal?«
»Anwar ist im Gefängnis.«
»Verfluchter Kerl! Wann ist er nach Ägypten zurückgegangen?«
»Er ist nicht zurück.«
»Dann sitzt er in Amerika ein?«
»Sein Dienstmädchen hat ihn angezeigt. Sie behauptet, dass sie unbezahlte Zwangsarbeit bei ihm leisten musste.«
»Wieso, hat sie etwa keinen Lohn bekommen?«
»Nun weich nicht vom Thema ab, darum geht es jetzt doch gar nicht. Im Übrigen hat sie selbstverständlich Lohn bekommen und ihr Vater, der Dreckskerl, auch. Der Punkt ist der: Was sollen wir jetzt machen?«
»Wir?«
G amâl wollte sich für niemanden einsetzen. Nicht aus Egoismus, nein, sondern aus einer bewussten Entscheidung heraus. »Ich möchte zehn Jahre für mich allein sein«, hatte er eines Tages verkündet. Er wollte nichts von seiner Frau, nichts von seinen Kindern und erst recht nichts von seinem Vater hören. Sie würden sich wundern, ihn in zehn Jahren, so Gott es wünschte, völlig verändert zu sehen. Als reifen Mann mit Selbstbewusstsein und der Fähigkeit, die Menschen mit seiner Weisheit zu bereichern.
Viele Jahre seines Lebens hatte er für ein Dasein geopfert, das ihm von der Gesellschaft aufgedrückt worden war. Er war sich selbst fremd gewesen, so fremd, dass er nicht einmal mehr Bezug zu seinem Schatten hatte. Jetzt hingegen gestaltete er seinen Schatten eigenhändig, und das zum ersten Mal. Der Vater hatte ihn mit seinen Beziehungen und seinem Geld in die Rolle des Geschäftsmanns gedrängt. Wie also hätte er da einen anderen Weg einschlagen können? Damals aber war ihm klargeworden, was es mit dem Aufstieg und Niedergang von Familien, ja ganzen Ländern und Nationen auf sich hatte. Der Geschichtslehrer hatte solche Prozesse damit erklärt, dass Menschen, die in Saus und Braus leben, mit der Zeit verweichlichten. In der Regel sei es so, dass ein Reich ausgerechnet vom Enkel jenes Königs zu Fall gebracht werde, dem Ruhm und Wohlstand zu verdanken waren. Gamâl jedoch war im Laufe seines früheren Lebens auf eine andere Wahrheit gestossen: Nachlässigkeit war keineswegs immer die Ursache für Verfall. Vielmehr stehen Bildung, Moral und gute Manieren im Widerspruch zu Macht und Stärke, denn Erfolg, so hatte ihn die Erfahrung gelehrt, setzt Ignoranz, Grobheit, Rücksichtslosigkeit, ja Brutalität voraus, also die Bereitschaft, gewisse Prinzipien aufzugeben.
Gamâl erinnerte sich an einen Satz aus dem Film
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