Arche
verdiente, Leichen auszubuddeln, dachte Tyler. Er drehte sich um. Dilara blickte nicht auf den Novizen, sondern auf eine zweite Leiche, die in einem ähnlichen Zustand war, nur dass sie Jeans, ein kurzärmeliges Hemd und eine Khakijacke trug. Das graue Haar ließ vermuten, dass der Mann nicht mehr der Jüngste gewesen war, sondern mindestens Mitte fünfzig. Ein Notizbuch
und ein Stift lagen neben ihm auf dem Boden. Tyler fiel es wie Schuppen von den Augen.
Er sah Dilaras schwach erleuchtetes Gesicht, entsetzt und voller Liebe, als sie hauchte: »Dad?«
61. KAPITEL
Dilara kniete auf dem Boden neben ihrem Vater. Tyler legte ihr die Hand auf die Schulter. Er kannte das Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Der einzige Trost war, dass die Ungewissheit ein Ende hatte. Dilara griff nach Tylers Hand. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
»Es tut mir so leid, Dilara«, versuchte er sie zu trösten. Sie nickte wortlos. Die anderen hielten sich diskret abseits, so gut es in dem engen Raum ging.
Der Boden war mit Blut befleckt. Tyler sah, woher es stammte. Zwei Kugeln waren Hasad Arvadi ins Knie gedrungen, eine dritte in den Unterleib. Er war einen schweren Tod gestorben. Tyler hob das Notizbuch auf, das dem Toten aus der Hand geglitten war. Er schien bis zuletzt darin geschrieben zu haben. Die Schrift war unregelmäßig, gequält, nicht weich und fließend wie die Nachricht an seine Tochter, die sie bei der Schriftrolle gefunden hatten. Es waren nur drei Zeilen, quer über die Seite gekritzelt. Sie sahen aus, als wären sie im Dunkeln geschrieben. Der letzte Satz brach unvermittelt ab.
Ulric hat mich getötet. Sollte Ort der Arche verraten
Falschen Eingang genannt
Hat das Amulett von Jafet
Sag niemand
Tyler las noch einmal die zweite Zeile: Falschen Eingang genannt .
Dilaras Vater hatte Ulric in die Irre geführt. Aber was meinte er mit »falscher Eingang«? Bei einem sechstausend Jahre alten Schiff würde es doch nichts ausmachen, ob man den richtigen Eingang fand? Man sägte ein Loch in die Seite und spazierte hinein. Es ergab keinen Sinn. Vielleicht hatten die Schmerzen und der Blutverlust bei Arvadi zu Wahnvorstellungen geführt. Mit der letzten Zeile war nichts anzufangen, aber die drei ersten schienen klar. Wenn Ulric von Dilaras Vater überlistet worden war, könnte sogar noch eine Chance bestehen, dass sie die Arche und das darin enthaltene Amulett vor ihrem Widersacher fanden.
Tyler hätte Dilara gerne mehr Zeit gelassen, sich von ihrem Vater zu verabschieden, aber sie musste nun möglichst schnell die Karte entziffern.
»Sei mir nicht böse, Dilara«, sagte er, »geht es wieder?«
Sie zog ihre Jacke aus und bedeckte damit das Gesicht ihres Vaters. Dann stand sie auf und nickte.
»Ich wusste schon lange, dass er tot ist. Aber es auf diese Weise bestätigt zu finden, tut weh.«
»Ich weiß.«
»Er hatte sein Lebensziel so gut wie erreicht. Ulric hat ihn umgebracht, kurz bevor sein Lebenstraum Wirklichkeit wurde.« Sie wischte sich die Tränen ab und sah Tyler an. »Wir kriegen ihn, ja? Wir werden den Saukerl umbringen.«
Tyler hatte nichts dagegen, wenn Ulric die Gänseblümchen von unten zählte, aber Dilaras Rachegelüste waren in dieser Situation eher hinderlich.
»Wir tun, was nötig ist. Aber zuallererst musst du das Werk deines Vaters zum Abschluss bringen. Sonst wird es uns nicht
gelingen, Ulric von seinem wahnsinnigen Vorhaben abzuhalten. Meinst du, du kannst dich darauf konzentrieren?«
Der Zorn in ihren Augen loderte noch eine Weile, dann erlosch er. Sie nickte. Der Kummer war ihr anzusehen.
»Tyler, sieh dir das mal an!«, rief da plötzlich Grant. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe auf einen kleinen Altar. Im Staub war zu erkennen, dass dort einst ein runder Gegenstand gelegen hatte. Das Amulett.
»Kann das wahr sein? Bisher habe ich nicht geglaubt, dass wir Noahs Arche wirklich finden«, sagte Tyler.
»Und jetzt?«
»Die Karte sieht ziemlich überzeugend aus. Meine Skepsis beginnt zu weichen.«
Dilara machte mehrere Blitzlichtaufnahmen, dann richtete sie ihre Taschenlampe auf den Text. Mehrmals wanderte ihr Blick zum Leichnam ihres Vaters, und die Tränen stiegen ihr in die Augen. Tyler legte jedes Mal sanft seinen Arm um sie und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Inschrift. Sie war in derselben Sprache verfasst wie die Schriftrolle. Es dauerte fünfzehn Minuten, bevor Dilara endlich etwas sagte.
»Anscheinend hat Ulric Recht«, kam es schließlich. »Er hat mir gegenüber
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