Archer Jeffrey
wütend die Waggontür zu, beleidigt, über die Anrede ,Träger’.
Damit hatte Henry nicht gerechnet; dennoch entschloß er sich widerstrebend, seine Frau mit den vierzehn Koffern stehen zu lassen und zum Schalter am Ende von Bahnsteig vier zurückzugehen, wo er sich an die Spitze der langen Warteschlange stellen wollte.
„Noch nie gehört, daß man sich am Ende anstellt, Genosse?“ rief jemand. Das hatte Henry tatsächlich noch nie gehört. „Ich bin schrecklich in Eile“, sagte er. „Ich auch“, erhielt er zur Antwort, „also drängen Sie sich bitte nicht vor.“
Henry hatte einmal gehört, die Engländer seien Meister im Schlangestehen. Da er selbst bis dato aber nie in diese Verlegenheit gekommen war, sah er sich außerstande, dieses Gerücht zu bestätigen oder zu widerlegen. Widerstrebend begab er sich an das Ende der Warteschlange.
„Ich hätte gerne den letzten Waggon des Zuges nach Dover.“
„Sie hätten gerne was ?“
„Den letzten Waggon“, wiederholte Henry etwas lauter.
„Tut mir leid, Sir, aber in der ersten Klasse sind alle Sitzplätze ausverkauft.“
„Ich will nicht bloß einen Sitzplatz“, sagte Henry, „ich möchte den Waggon mieten.“
„Waggons werden heutzutage nicht mehr vermietet, Sir, und wie ich Ihnen schon sagte, sind die Sitzplätze in der ersten Klasse bereits ausverkauft.“
„Egal, was es kostet, ich wünsche nur erstklassig zu reisen“, sagte Henry.
„In der ersten Klasse sind keine Plätze mehr frei, Sir. Daran ist nichts zu ändern, selbst wenn Sie den ganzen Zug kaufen könnten.“
„Das kann ich auch“, sagte Henry.
„Trotzdem habe ich keinen freien Platz in der ersten Klasse“, sagte der Beamte abweisend.
Henry hätte noch weiter insistiert, doch mehrere Leute, die hinter ihm m der Schlange standen, machten ihn darauf aufmerksam, daß bis zur Abfahrt nur noch zwei Minuten Zeit blieben und sie im Unterschied zu ihm den Zug gerne noch erreichen würden.
„Dann geben Sie mir zwei Plätze“, sagte Henry, wobei er es nicht über sich brachte, die Worte „dritter Klasse“ hinzuzusetzen.
Zwei grüne Karten mit der Aufschrift Dover wurden ihm durch das Schiebefenster ausgehändigt. Henry nahm sie entgegen und wollte gehen.
„Macht siebzehn Kronen und sechs Penny, Sir.“
„Ach ja, natürlich“, sagte Henry schuldbewußt. Er kramte in seinen Taschen und entfaltete eine der drei großen, weißen Fünfpfundnoten, die er immer bei sich trug.
„Hätten Sie es nicht kleiner?“
„Nein“, sagte Henry, der es schon ordinär genug fand, überhaupt Bargeld bei sich zu haben.
Der Beamte gab ihm vier Pfund und eine halbe Krone zurück. Henry ließ die halbe Krone liegen.
„Danke, Sir“, sagte der Beamte verblüfft. Es war mehr als sein Samstaglohn.
Henry steckte die Fahrkarten ein und eilte zu Victoria zurück, die trotz des kalten Windes tapfer ihr Lächeln zu bewahren versuchte; es hatte allerdings nur noch eine entfernte Ähnlichkeit mit jenem Lächeln, das ihn in Bann geschlagen hatte. Der Gepäckträger war längst verschwunden und kein anderer war in Sichtweite. Der Schaffner entwertete Henrys Fahrkarten, schwenkte ein grünes Fähnchen und rief laut: „Alles einsteigen, bitte!“ Dann ertönte der Abfahrtspfiff.
In größter Eile warf Henry die vierzehn Koffer durch die offene Waggontür, schob Victoria hinterher und sprang im letzten Augenblick selbst auf. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, lief er den Korridor entlang und schaute in die Abteile der dritten Klasse. So etwas hatte er noch nie gesehen. Die Sitzbänke waren mit einem dünnen, abgewetzten Stoff überzogen, und als er endlich ein halbleeres Abteil entdeckt hatte, drängte sich ein junges Paar vor und besetzte die letzten zwei nebeneinanderliegenden Sitzplätze. Vergeblich versuchte Henry ein noch unbesetztes Abteil zu finden, es waren nur wenige Plätze noch frei. Victoria nahm schließlich ohne Murren mit dem letzten freien Sitz eines vollen Abteils vorlieb, während Henry mit verstörtem Blick auf einem der Koffer draußen auf dem Korridor saß.
„Wenn wir erst einmal in Dover sind, wird das alles anders“, sagte er ohne sein übliches Selbstvertrauen.
„Ja, ganz bestimmt, Henry“, antwortete sie und lächelte ihm liebevoll zu.
Die zweistündige Fahrt schien kein Ende nehmen zu wollen. Reisende aller Klassen und Altersstufen drängten sich an Henry vorbei durch den Korridor, traten auf seine LobbsMaßschuhe und murmelten:
„Pardon, Sir.“
„Verzeihen
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