Archer Jeffrey
Horizont die Küste der Normandie auftauchte. Taumelnd verließen sie das Schiff, so schwach, daß sie die Koffer einzeln an Land tragen mußten.
„Vielleicht wird es in Frankreich anders sein“, sagte Henry ohne Überzeugungskraft, und nachdem er ebenso flüchtig wie vergeblich nach Pierre Ausschau gehalten hatte, ging er geradewegs zum nächsten Fahrkartenschalter, wo er zwei Plätze dritter Klasse für den „Flèche d’Or“ ergatterte. Diesmal saßen sie wenigstens nebeneinander, wenn auch in Gesellschaft von sechs anderen Passagieren, einem Hund und einer Henne. Die sechs Leute ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, daß sie der neumodischen Sitte des Rauchens in aller Öffentlichkeit sowie der altmodischen Sitte des Knoblauchgenusses frönten. Henry spielte mit dem Gedanken, auf der Suche nach Raymond m den Gängen des Zuges auf und ab zu gehen, fürchtete jedoch, er könnte dadurch seinen Sitzplatz neben Victoria verlieren. Er gab den Versuch auf, das Hundegebell, das Hühnergackern und das Geschnatter der Knoblauchesser zu übertönen, um sich mit ihr unterhalten zu können, und begnügte sich damit, beim Fenster hinauszusehen. Bewundernd betrachtete er die französische Landschaft und registrierte zum erstenmal die Namen aller Bahnstationen, die an dieser Strecke lagen.
Bei der Ankunft am Pariser Nordbahnhof nahm er sich nicht die Mühe, nach Maurice Ausschau zu halten, sondern steuerte geradewegs auf den nächsten Taxistandplatz zu. Als endlich alle vierzehn Koffer abgeladen waren, hatte sich bereits eine lange Warteschlange gebildet. Victoria und er mußten nur etwas mehr als eine Stunde warten, während der sie die Koffer Schritt für Schritt vor sich herschoben, bis die Reihe endlich an ihnen war.
„Monsieur?“
„Sprechen Sie englisch?“
„ Un peu, un peu.“
„Hotel ,George Cinq’.“
„Oui, maisje nepeuxpas mettre toutes les valises dans lecoffre.“
Henry und Victoria saßen also, umgeben von Lederkoffern, im Fond des Taxis und wurden auf der Fahrt über die gepflasterten Straßen gründlich durchgebeutelt.
Ein Hotelboy stürzte herbei, um seine Hilfe anzubieten, als er sah, wie Henry den Taxifahrer mit einer Pfundnote bezahlen wollte.
„Nicht nehmen englisches Geld, Monsieur.“
Henry traute seinen Ohren nicht. Hoch zufrieden bezahlte der Hotelboy den Taxilenker in Francs und ließ die Pfundnote rasch in seiner Tasche verschwinden.
Henry war viel zu müde, um irgend etwas zu sagen. Er half Victoria die Marmortreppen hinauf, ging zur Rezeption und sagte:
„Der Großpascha von Kairo mit seiner Frau. Die Suite für Jungvermählte, bitte.“
„Oui, monsieur.“
Henry lächelte Victoria zu.
„Haben Sie Ihre Reservierungsbestätigung bei sich?“
„Nein“, sagte Henry. „Ich hatte es bisher nie nötig, mein Zimmer im voraus zu reservieren. Vor dem Krieg war ich…“
„Tut mir leid, Sir, aber das Hotel ist zur Zeit voll ausgebucht. Eine Konferenz.“
„Sogar die Suite für Jungevermählte?“ fragte Victoria.
„Jawohl, Madame. Der Vorsitzende und seine Begleiterin, Sie verstehen.“ Es fehlte nicht viel, und er hätte ihr zugezwinkert.
Henry verstand die Welt nicht mehr. Früher war im „George V“, wann immer er wollte, ein Zimmer für ihn bereitgestanden. Der Verzweiflung nahe griff er nach seiner zweiten Fünfpfundnote und schob sie über die Theke.
„Ach ja“, sagte der Hotelangestellte, „ich glaube, ein Zimmer haben wir noch. Ich fürchte allerdings, es ist nicht sehr groß.“
Henry winkte mit einer müden Handbewegung ab.
Der Hotelangestellte drückte auf einen Klingelknopf, und sogleich erschien ein Träger, der sie zu dem versprochenen Zimmer begleitete. Der Hotelangestellte hatte nicht untertrieben. Den Raum, in dem sie sich befanden, hätte Henry bestenfalls als Kabine bezeichnet. Der Grund, warum die Gardinen ständig zugezogen waren, lag darin, daß der Blick über die Schornsteine von Paris alles andere als anziehend war. Was Henry jedoch den letzten Schlag versetzte, war der Anblick von zwei schmalen, getrennten Betten, die er in ungläubigem Staunen anstarrte. Victoria begann wortlos die Koffer auszupacken, währen Henry völlig verzagt am Fußende des einen Bettes saß. Nachdem sie sich notdürftig in einer Badewanne gewaschen hatte, die genau die richtige Größe für ein sechsjähriges Kind gehabt hätte, ließ sie sich erschöpft auf das andere Bett fallen. Fast eine Stunde lang sprach keiner von beiden ein Wort.
„Komm, Liebling“, sagte Henry
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