Archer Jeffrey
wahrscheinlich war Thomas Hardy ebenso voreingenommen wie Sie und dachte nur an das Plymouth des Sir Francis Drake.“
„Welches ist denn Ihre bevorzugte Gegend in England?“
„Meiner Meinung nach wird der nördliche Teil von Yorkshire meist unterschätzt. Spricht man von Yorkshire, denkt man immer nur an Leeds, Sheffield und Barnsley, an Kohlengruben und Schwerindustrie. Der Reisende sollte einmal in die etwas abgelegenen Täler fahren – das ist ein Unterschied wie zwischen Himmel und Hölle. Loncolnshire ist für meinen Geschmack zu flach, und die Midlands sind durch die Ausbreitung der Städte jetzt sicher sehr verschandelt. Ich habe wenig für die Birminghams dieser Welt übrig. Letztlich würde ich mich wahrscheinlich für Worcestershire oder Warwickshire entscheiden, diese malerischen, alten Dörfer in den Cotswolds, mit Stratford-upon-Avon als Krönung des Ganzen. Wie gerne wäre ich im Jahre 1959 in England gewesen; bei uns in Ungarn begannen die Wunden der Revolution allmählich zu vernarben, und bei Ihnen spielte Sir Lawrence Olivier den Coriolan – auch ein Held, der seine Narben nicht zur Schau stellen wollte.“
„Ich habe die Aufführung gesehen“, sagte ich. „Wir waren mit der Schule dort.“
„Sie Glücklicher. Ich habe das Stück im Alter von neunzehn Jahren ins Ungarische übersetzt, und erst kürzlich, beim nochmaligen Überlesen, wurde mir klar, daß ich diese Übersetzung vor meinem Tod unbedingt noch einmal überarbeiten muß.“
„Haben Sie auch andere Shakespeare-Stücke übersetzt?“
„Ja, alle bis auf drei. Den Hamlet habe ich mir bis zum Schluß aufgehoben, und, wie gesagt, möchte ich mich nochmals über den Coriolan machen. Sie sind Student – darf ich fragen, welche Universität Sie besuchen?“
„Oxford.“
„Und Ihr College?“
„Brasenose.“
„Ah, B.N.C. – nur wenige Schritte entfernt von der herrlichsten Bibliothek der Welt, der Bodleian Bibliothek. Wäre ich in England aufgewachsen, hätte ich gerne das All Souls College besucht, – das liegt doch gegenüber von B.N.C. nicht wahr?“
„Ganz richtig.“
Der Professor unterbrach das Gespräch, um den nächsten Lauf – das erste Semifinale über 1500 Meter – zu verfolgen. Sieger wurde Andras Patovich, ein Ungar, und seine Fans tobten vor Freude.
„Das nenne ich Begeisterung“, bemerkte ich.
„Ja, wie bei Manchester United, als die Mannschaft den Siegestreffer im letzten Cup-Finale erzielte. Aber meine Landsleute jubeln jetzt nicht, weil ein Ungar gesiegt hat“, sagte der alte Herr.
„Nicht?“ fragte ich erstaunt.
„Oh, nein, sie freuen sich, weil er den Russen geschlagen hat.“
„Daran habe ich nicht gedacht.“
„Warum sollten Sie auch, Sie haben ja keinen Grund dazu. Uns aber sind die Russen immer gegenwärtig, und wir haben nur selten Gelegenheit, sie öffentlich als Verlierer zu sehen.“ Ich lenkte das Gespräch wieder auf unser voriges, unbeschwertes Thema: „Welche Schule hätten Sie gern vor All Souls College besucht?“
„Sie meinen, als Mittelschüler?“
„Ja.“
„Zweifellos ist Magdalen die schönste Schule, schon wegen ihrer Lage am Fluß; außerdem aber muß ich meine Schwäche für strenge Architektur bekennen – und meine Liebe zu Oscar Wilde.“ Unser Gespräch wurde durch einen neuerlichen Startschuß unterbrochen: den zum zweiten Semifinale über 1500 m; diesmal gewann Orentas, UdSSR, und die Zuschauer manifestierten ihr Mißfallen durch einen Applaus, bei dem die Hände einander nicht berührten. Der alte Herr verfiel in bedrücktes Schweigen. Den letzten Bewerb dieses Tages gewann Tim Johnston, Großbritannien – ich sprang auf und jubelte ihm zu. Von den ungarischen Zuschauern kam höflicher Beifall.
Der Professor schwieg noch immer. Ich wollte mich von ihm verabschieden.
„Wie lange bleiben Sie in Budapest?“ fragte er.
„Noch bis zum Ende der Woche. Sonntag fahren wir nach England zurück.“
„Könnten Sie vielleicht einmal etwas Zeit erübrigen, um mit einem alten Mann zu Abend zu essen?“
„Mit großer Freude.“
„Das ist sehr nett von Ihnen“, sagte er, und schrieb seinen Namen und seine Adresse in Blockbuchstaben auf den Rücken meines Programmheftes. „Sagen wir, morgen um sieben Uhr? Und wenn Sie ein paar alte Zeitungen und Zeitschriften haben, so bringen Sie sie bitte mit. Sollte sich aber an Ihren Plänen etwas ändern, hätte ich natürlich volles Verständnis.“
Am nächsten Vormittag besichtigte ich die Matthias-Kirche und die Festung, die von
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