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Archer Jeffrey

Archer Jeffrey

Titel: Archer Jeffrey Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die chinesische Statue und andere Uberraschungen
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noch reihenweise Einschußlöcher zu sehen waren, obwohl die Revolution schon etliche Jahre zurücklag. Es schien, als wollten die Patrioten die Erinnerung an 1956 wachhalten. Die Menschen auf den Straßen hatten müde, ausdruckslose Gesichter, einen langsamen, schleppenden Gang, und sie wirkten steinalt. Fragte man, warum das so sei, wurde einem erklärt, daß es weder Grund zur Eile noch zur Freude gäbe. Andererseits gewann ich aber auch den Eindruck, daß die Menschen hier sehr hilfsbereit waren.
    Am dritten Tag der Veranstaltung ging ich noch einmal ins Nép-Stadion, denn am Nachmittag fand das Semifinale im 400m-Hindernislauf statt, bei dem ein Freund von mir antrat. Als angemeldeter Teilnehmer konnte ich mich hinsetzen, wo ich wollte, und so wählte ich einen Platz direkt oberhalb der letzten Kurve, um den Einlauf in die Zielgerade genau im Blickfeld zu haben. Das Rennen begann, und als mein Freund in der Kurve auftauchte, die siebente Hürde nahm und nur noch drei vor sich hatte, sprang ich auf und feuerte ihn an, bis er das Ziel erreichte. Er wurde tatsächlich Dritter und hatte sich damit für das Finale am nächsten Tag qualifiziert. Ich setzte mich wieder, um die Ergebnisse in mein Programm einzutragen. Es folgten Hammerwerfen und Stabhochsprung. Da an keinem der beiden Bewerbe ein Landsmann von mir teilnahm, wollte ich schon gehen, als eine Stimme hinter mir sagte:
    „Sie sind Engländer!“
„Ja“, antwortete ich und drehte mich nach dem Fragesteller um. Er war ein älterer Herr, bekleidet mit einem Anzug, der schon außer Mode gewesen sein mußte, als ihn noch sein seliger Vater getragen hatte. Die Lederflecken an den Ärmeln ließen klar erkennen, daß ich einen Junggesellen vor mir hatte: ein solches wunderliches Flickwerk brachte nur ein Mann zustande. Nach der Länge der Hosenbeine zu schließen mußte sein Vater übrigens um gute zehn Zentimeter größer gewesen sein als er. Der Mann hatte schütteres weißes Haar, einen Schnauzbart und rote Bäckchen. Die müden blauen Augen sahen unter schweren Lidern hervor, und die Stirn war so zerfurcht, daß er ebensogut fünfzig wie siebzig Jahre alt sein konnte. Er wirkte er wie eine Kreuzung aus einem Straßenbahnkontrolleur und einem engagementlosen Geiger. „Ich hoffe, Sie vergeben mir die Frage“, fügte er noch hinzu.
„Aber gewiß“, erwiderte ich.
„Ich habe nämlich so selten das Vergnügen, mit einem Engländer zu sprechen, und darum packe ich die Gelegenheit beim Schopf. Das ist doch der richtige Ausdruck.“
„Ja, ganz genau der richtige“, entgegnete ich und überlegte schnell, wie viele ungarische Worte ich konnte: Ja, nein, guten Morgen, auf Wiedersehen, ich habe mich verirrt, Hilfe.
„Sind Sie Teilnehmer an diesen Bewerben?“
„Ich war einer. Schon am Montag bin ich aber hinausgeflogen.“
„Waren Sie vielleicht nicht schnell genug?“
Ich lachte und bewunderte, wie gut er meine Muttersprache beherrschte.
„Wie kommt es, daß Sie so großartig englisch sprechen?“ fragte ich.
„Ich habe es leider ein wenig vernachlässigt, aber noch ist es mir gestattet, an unserer Universität Englisch zu unterrichten. Ich muß Ihnen übrigens gestehen, daß ich nicht das geringste Interesse an Sport habe; aber bei Veranstaltungen wie dieser habe ich oftmals die Gelegenheit, jemanden in ein Gespräch zu verstricken und so die alte, rostige Maschine ein wenig zu ölen
– und sei es nur für ein paar Minuten.“ Er schenkte mir ein müdes Lächeln, aber seine Augen strahlten.
„Aus welcher Gegend England stemmen Sie?“ Zum erstenmal hatte er Schwierigkeiten mit der Aussprache: er sagte „stemmen“ statt „stammen“.
„Aus Somerset“, antwortete ich.
„Ah“, sagte er. „Das ist wahrscheinlich die schönste Grafschaft Englands.“ Ich mußte lächeln, denn die meisten Touristen kommen über Stratford-on-Avon oder Oxford nicht hinaus.
„Eine Fahrt über die Mendips“, fuhr er fort, „durch grünes Hügelland, dann Cheddar mit den Goughs-Höhlen, Wells mit seinen schwarzen Schwänen, die die Glocken an der Mauer der Kathedrale läuten, oder Bath, wo man mit der Kultur der alten Römer Bekanntschaft macht – und dann vielleicht weiter über die Grenze nach Devon…
Würden Sie sagen, daß Devon noch schöner ist als Somerset?“
„Niemals“, sagte ich.
„Vielleicht sind Sie da etwas voreingenommen.“
„Warten Sie, wie geht das nur –
Sieben Grafschaften gibt es im Westen,
doch Devon gefällt mir gewiß am besten.
Aber

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