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Archer Jeffrey

Archer Jeffrey

Titel: Archer Jeffrey Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kain und Abel
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Wladek war nicht gewillt, die Schmerzen noch einen Tag zu ertragen, meldete sich beim Arzt und gab Nummer und Namen an. Pierre Dubien war ein freundlicher alter Mann. Wortlos untersuchte er Wladeks Bein.
    »Wird die Wunde heilen?« fragte Wladek.
»Du sprichst russisch?«
»Ja, Herr.«
»Obwohl du immer ein wenig hinken wirst, wird das Bein in
    Ordnung kommen. In Ordnung wofür? Um Holz zu schleppen.« »Nein, Herr Doktor. Ich will fliehen und nach Polen zurückkehren«,
sagte Wladek.
Der Arzt sah ihn prüfend an. »Sprich leise, dummer Junge. Du mußt
doch bereits eingesehen haben, daß eine Flucht unmöglich ist. Ich bin
seit fünfzehn Jahren gefangen, und kein Tag ist vergangen, an dem ich
nicht an Flucht dachte. Es gibt keine Hoffnung; niemand hat eine
Flucht überlebt, und nur davon zu sprechen bedeutet zehn Tage in der
Strafzelle, wo es nur jeden dritten Tag Essen gibt und der Ofen nur
geheizt wird, um das Eis von den Wänden zu schmelzen. Wenn du
lebend aus der Zelle kommst, kannst du dich glücklich preisen.« »Ich werde fliehen, ich werde fliehen«, wiederholte Wladek und
starrte den alten Mann an.
Der Arzt blickte Wladek in die Augen und lächelte. »Mein Freund,
sprich nie mehr von Flucht, oder sie bringen dich um. Arbeite weiter,
bewege dein Bein und melde dich jeden Morgen bei mir.«
Wladek kehrte in den Wald und zum Holzfällen zurück, mußte
jedoch feststellen, daß er die Stämme kaum weiter als ein paar Meter
ziehen konnte und die Schmerzen immer stärker wurden.
Als er am nächsten Morgen wiederkam, untersuchte der Arzt die
Wunde etwas genauer.
»Wird schlechter«, sagte er. »Wie alt bist du, mein Junge?« »Ich glaube, ich bin dreizehn«, sagte Wladek, »welches Jahr
schreiben wir?«
»1919«, erwiderte der Arzt.
»Ja, dann bin ich dreizehn. Wie alt sind Sie?« fragte Wladek. Der alte Mann schaute in die blauen Augen des Jungen; die Frage
erstaunte ihn.
»Achtunddreißig«, sagte er leise.
»Mein Gott«, entfuhr es Wladek.
»Du wirst genauso aussehen, wenn du fünfzehn Jahre
Gefangenschaft hinter dir hast, mein Junge«, sagte der Arzt trocken. »Warum sind Sie überhaupt hier?« fragte Wladek. »Warum hat man
Sie nicht längst entlassen?«
»Ich wurde 1904 kurz nach meinem Doktorat in Moskau
gefangengenommen. Damals arbeitete ich an der französischen
Botschaft. Es wurde behauptet, ich sei ein Spion, und man warf mich in Moskau ins Gefängnis. Ich hielt das für sehr schlimm - bis zur Revolution. Da schickte man mich in diese Hölle. Heute haben auch die Franzosen meine Existenz vergessen. Die wenigsten haben Lager 201 lebend verlassen; so muß ich hier sterben wie alle anderen auch,
und je früher, desto besser.«
»Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Herr Doktor.« »Hoffnung? Für mich habe ich sie schon längst aufgegeben. Für
dich gebe ich sie vielleicht nicht auf, aber hüte dich davor, diese
Hoffnung jemals zu erwähnen. Es gibt hier Gefangene, die lose
Zungen verraten, selbst wenn sie nur mit einem Stück Brot oder
vielleicht einer Decke dafür belohnt werden. Wladek, ich werde dich
jetzt einen Monat lang zum Küchendienst abstellen, und du mußt dich
jeden Morgen bei mir melden. Das ist die einzige Chance, wenn du
dein Bein nicht verlieren willst, und ich wäre nicht gern derjenige, der
es abnimmt. Unsere Instrumente sind nicht die modernsten«, fügte er
hinzu und starrte auf ein großes Tranchiermesser. Wladek schauderte. Doktor Dubien schrieb Wladeks Namen auf ein Stück Papier. Am
nächsten Morgen meldete sich Wladek in der Küche, wo er in eisigem
Wasser Teller spülte und später Essen herrichtete, das keiner Kühlung
bedurfte. Nach dem Holzschleppen empfand er es als angenehme
Abwechslung: extra Fischsuppe, dicke schwarze Brotschnitten mit
gehackten Nesseln und die Möglichkeit, im Warmen zu bleiben.
Einmal teilte er sogar ein Ei mit dem Koch, obwohl keiner von ihnen
genau wußte, welches Federvieh es gelegt hatte. Wladeks Bein heilte
nur langsam, und ein deutliches Hinken blieb zurück. Doktor Dubien
konnte, da er praktisch keine Medikamente zur Verfügung hatte, kaum
etwas anderes tun, als Wladeks Genesung beobachten. Im Lauf der
Zeit wurden Wladek und der Arzt Freunde, und Dubien begann sogar
an Wladeks jugendliche Hoffnung zu glauben. Jeden Morgen
unterhielten sie sich in einer anderen Sprache, doch der alte Mann
sprach am liebsten Französisch, seine Muttersprache.
»In einer Woche mußt du zur Waldarbeit zurückkehren, Wladek.
Die Wachen werden dein Bein untersuchen,

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