Archer Jeffrey
»Mari.«
Lubji schlief ein. Als er erwachte, schien ihm die Morgensonne in die Augen, und diesmal gelang es ihm, wenigstens den Kopf zu heben. Offenbar befand er sich auf einer Waldlichtung. Er sah einen Kreis hoch beladener bunter Wagen und Pferde, die im Schatten der Bäume grasten. Als er sich in die andere Richtung wandte, blieb sein Blick auf einem Mädchen haften, das sich wenige Schritt entfernt mit einem Mann unterhielt, der ein Gewehr trug. Jetzt erst wurde Lubji bewußt, wie schön sie war.
Als er rief, drehten beide sich um. Der Mann eilte sofort zu Lubji und begrüßte ihn in seiner Sprache. »Ich bin Rudi«, stellte er sich vor; dann berichtete er, wie er und seine Gruppe vor einigen Monaten über die tschechische Grenze geflohen waren – nur um feststellen zu müssen, daß die Deutschen auch in diesem Land hinter ihnen her waren. Ständig mußten sie weiterziehen, erzählte Rudi, da die Herrenrasse Zigeuner wie ihn noch geringer achtete als Juden.
Lubji bombardierte ihn mit Fragen. »Wer seid ihr? Wo bin ich?« Und, am wichtigsten: »Wo sind die Deutschen?« Er hielt erst inne, als Mari – Rudis Schwester, wie sich herausstellte – mit einer Schale voll heißer Flüssigkeit und einem dicken Stück Brot zu ihm kam. Sie kniete sich neben ihn, flößte ihm den dünnen Haferschleim ein und fütterte ihn mit Brot, während ihr Bruder erzählte, wie Lubji zu ihnen gekommen war. Rudi hatte die Schüsse gehört und sich zum Rand des Wäldchens geschlichen; denn er hatte befürchtet, von den Deutschen entdeckt worden zu sein. Doch es waren die entflohenen Gefangenen gewesen, auf die Jagd gemacht worden war. Nur einem von ihnen gelang es, nahe genug an das Zigeunerlager zu kommen, daß er schwerverwundet gerettet werden konnte: Lubji. Die anderen waren allesamt erschossen worden.
Die Deutschen hatten Lubji nicht weiter verfolgt, als sie beobachtet hatten, wie er in den Wald geschleppt worden war. »Vielleicht haben sie Angst bekommen, weil sie nicht wußten, mit wem sie’s zu tun hatten.« Rudi lachte. »Dabei besitzen wir bloß zwei Gewehre, eine Pistole und einige provisorische Waffen, von der Mistgabel bis zum Fischmesser. Wahrscheinlich haben die Deutschen befürchtet, daß auch die anderen Gefangenen entkommen würden, wenn sie dir folgten. Tja, da hab’ ich das Lager abbrechen lassen und Befehl gegeben, weiterzuziehen, sobald die Kugel aus deiner Schulter geschnitten war. Denn ich war mir sicher, daß die bei Sonnenaufgang mit einem größeren Trupp wieder zu dem Waldstück kommen.«
»Wie kann ich euch je danken?« murmelte Lubji.
Als Mari ihn zu Ende gefüttert hatte, hoben zwei Zigeuner ihn behutsam auf einen Wagen, und der kleine Zug setzte seinen Weg fort. Es ging tiefer in den Wald hinein. Immer weiter entfernten sie sich von der Stelle, wo auf die Gefangenen geschossen worden war. Sie mieden Ortschaften, ja, sogar Straßen. Mari pflegte Lubji Tag für Tag, bis er sich schließlich aufsetzen konnte. Sie war erfreut, daß er so schnell ihre Sprache lernte. Als sie eines Abends mit dem Essen zu ihm kam, sagte er in fließendem Romani, sie sei die schönste Frau, die er je gesehen habe. Mari errötete, rannte fort und kam erst mit dem Frühstück wieder zu ihm.
Dank Maris Pflege erholte Lubji sich rasch und konnte sich bald schon an den Abenden zu seinen Rettern ans Feuer setzen. Als aus den Tagen Wochen wurden, legte Lubji an Gewicht zu und konnte seinen Gürtel wieder ein wenig weiter schnallen.
Eines Abends, nachdem er mit Rudi von der Jagd zurückgekehrt war, erklärte Lubji seinen Gastgebern, daß er sie bald verlassen würde. »Ich muß zu einem Hafen und zusehen, so weit wie möglich von den Deutschen wegzukommen«, sagte er. Rudi nickte, als sie ums Feuer saßen und sich ein gebratenes Kaninchen teilten. Keiner sah, wie traurig Mari war.
Als Lubji in dieser Nacht zu den Wagen schlenderte, fand er Mari wartend vor. Er kletterte zu ihr auf die Ladefläche, legte sich auf den Rücken und versuchte ihr zu erklären, daß er ihre Hilfe beim Ausziehen nicht mehr brauchte, da seine Verletzung fast verheilt war. Sie lächelte nur, streifte behutsam sein Hemd von der Schulter, nahm den Verband ab und reinigte die Wunde. Dann wühlte sie in ihrer Tasche aus Zelttuch, runzelte die Stirn und zögerte kurz, bevor sie Stoffstreifen aus ihrem dünnen Kleid riß, mit denen sie Lubjis Schulter neu verband.
Lubji starrte schweigend auf Maris lange braune Beine, während ihre Finger langsam seine
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