Archer Jeffrey
Zigeunergruppe verlassen hatte.
Am vierten Morgen konnte er kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen – vielleicht schaffte der Hunger, was die Deutschen nicht geschafft hatten. Am Abend des fünften Tages schlurfte er nur noch ziellos voran, zu Tode erschöpft und halb erfroren; es war ihm beinahe gleichgültig, ob er lebte oder starb. Dann, plötzlich, vermeinte er in der Ferne Rauch aufsteigen zu sehen. Doch er mußte noch eine weitere Nacht hungern und frieren, ehe flackernde Lichter ihm bestätigten, daß seine Augen ihn nicht getäuscht hatten. Vor ihm lag eine Ortschaft, und dahinter erstreckte sich das Meer.
Bergab mochte es zwar etwas schneller gehen, doch war es nicht weniger gefährlich. Lubji rutschte mehrmals aus, stürzte, rappelte sich nur mühsam auf. Deshalb erreichte er die grüne Ebene nicht vor Sonnenuntergang, wie er sich erhofft hatte. Immer wieder versteckte der Mond sich hinter Wolken, und in der Dunkelheit kam Lubji nur sehr langsam voran.
Als er den Rand der Ortschaft erreichte, waren die meisten Lampen in den kleinen Häusern bereits gelöscht, doch Lubji schleppte sich weiter voran – in der Hoffnung, jemanden anzutreffen, der noch wach war. Das erste Haus, zu dem er gelangte, gehörte offenbar zu einem kleinen Bauernhof. Lubji fragte sich, ob er anklopfen sollte, entschied sich aber dagegen, da nirgends Licht brannte. Er wartete, bis der Mond wieder hinter einer Wolke hervorkam, als er eine Scheune auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes bemerkte. Lubji schleppte sich zu dem windschiefen Unterschlupf hinüber. Hühner rannten gackernd vor ihm davon, und beinahe wäre er gegen eine schwarze Kuh geprallt, die offenbar nicht die Absicht hatte, dem Fremden aus dem Weg zu gehen. Das Scheunentor stand halb offen. Lubji ging hindurch, ließ sich auf das Stroh sinken und schlief auf der Stelle ein.
Als er am nächsten Morgen erwachte, stellte er fest, daß er sich nicht bewegen konnte; er wurde von irgend etwas zu Boden gedrückt. Für einen Augenblick glaubte er, wieder im Gefängnis zu sein, bis er die Augen aufschlug und zu einer stämmigen Gestalt emporstarrte, die über ihm aufragte. Der Mann hielt eine lange Heugabel in den Fäusten, die sich als Grund für Lubjis Bewegungsunfähigkeit erwies.
Der Bauer brüllte etwas in einer Sprache, von der Lubji einige Brocken beherrschte, und er seufzte vor Erleichterung, daß es nicht Deutsch war. Er hob den Blick zum Himmel und sprach ein stummes Dankgebet, daß seine Lehrer ihm eine so umfassende Bildung hatten zuteil werden lassen. Dann erzählte er dem Mann mit der Heugabel, daß er vor den Deutschen geflohen und über die Berge gekommen sei. Der Bauer schien ihm nicht zu glauben, bis er die kaum verheilte Schußverletzung an Lubjis Schulter sah. Der Mann konnte es kaum fassen. Der Bauernhof hatte bereits seinem Vater gehört, und selbst der hatte nie erwähnt, daß es irgend jemandem je gelungen war, allein die Berge zu überqueren.
Er führte Lubji zum Haus, ohne die Heugabel aus der Hand zu legen. Beim Frühstück, das die Frau des Bauern ihm vorsetzte – Speck, Eier und dicke Scheiben Brot – erzählte Lubji, wenngleich mehr mit den Händen als mit Worten, was er in den vergangenen Monaten durchgemacht hatte. Die Frau war voller Mitgefühl und füllte immer wieder seinen leeren Teller nach. Der Bauer dagegen sagte wenig; er war immer noch mißtrauisch.
Als Lubji mit seiner Geschichte zu Ende war, warnte der Bauer ihn: Trotz der mutigen Worte Titos, des Partisanenführers, hielt er es nur für eine Frage der Zeit, bis die Deutschen in Jugoslawien einmarschierten. Lubji fragte sich, ob es überhaupt ein Land auf der Welt gab, das vor dem deutschen Führer sicher war. Vielleicht mußte er den Rest seines Lebens vor Adolf Hitler davonlaufen.
»Ich muß zur Küste«, sagte er. »Wenn ich mit einem Schiff übers Meer käme …«
»Es spielt keine Rolle, wo du mit dem Schiff anlegst«, sagte der Bauer, »Hauptsache, es ist so weit wie möglich von diesem Krieg entfernt.« Er biß in einen Apfel. »Wenn die Deutschen dich noch mal erwischen, lassen sie dich nicht wieder entkommen. Sieh zu, daß du ein Schiff findest – irgendein Schiff, das dich nach Amerika bringt, oder nach Mexiko oder Westindien, oder wenigstens bis nach Afrika.«
»Wie komme ich zum nächsten größeren Hafen ?«
»Dubrovnik ist zweihundert Kilometer südlich von hier.« Der Bauer zündete sich eine Pfeife an. »Dort findest du genug Schiffe mit Leuten drauf, die nur
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