Archer Jeffrey
Klassenzimmer war eine segensreiche Zuflucht vor meinem Gefängnis und seinen Wärterinnen. Jede einzelne Minute in der städtischen Schule war eine Minute, in der ich nicht im Heim sein mußte, und ich erkannte rasch, daß ich um so länger bleiben konnte, je mehr ich mich anstrengte. Das ließ sich sogar noch ausdehnen, als meine Leistungen mir im Alter von elf Jahren einen Platz im Melbourner Lyzeum der Kirche von England einbrachten, wo es so viele Wahlfächer und Veranstaltungen nach den Unterrichtsstunden gab, daß ich im St. Hilda fast nur noch schlief und frühstückte.
Im Lyzeum nahm ich Malunterricht, der es mir ermöglichte, im Zeichensaal mehrere Stunden ohne ständige Beaufsichtigung zu verbringen; Tennisstunden, bei denen ich mich durch wirklich hartes Training zur sechstbesten Spielerin hochkämpfte (was den Vorteil einbrachte, daß ich abends üben durfte, bis es dunkel wurde); und ich meldete mich zum Kricket, für das ich zwar überhaupt keine Begabung hatte, doch da man mich zur Punktezählerin machte, mußte ich nicht nur bei jedem Spiel meines Teams anwesend sein, bis der letzte Ball geschlagen war, sondern auch jeden zweiten Samstag mit einem Sonderbus zu einem Auswärtsspiel mitfahren. Ich war bestimmt eines der wenigen Kinder, die mehr Freude an Auswärts-, denn an Heimspielen hatten.
Mit sechzehn kam ich in die sechste Oberschulklasse und begann mich noch mehr hineinzuknien. Die Direktorin erklärte Miss Benson, daß ich möglicherweise ein Stipendium für die Universität Melbourne bekommen würde – wahrhaftig nichts Alltägliches für einen Zögling von St. Hilda.
Jedesmal, wenn ich eine Auszeichnung oder einen Tadel bekam – letzteres kam nur noch selten vor, nachdem ich zur Schule ging –, mußte ich mich bei Miss Benson in ihrem Arbeitszimmer melden, wo sie ein paar lobende oder rügende Worte sagte, ehe sie den Zettel, auf dem ihr die Meldung erstattet worden war, in einen Ordner gab, den sie dann in einen Aktenschrank hinter ihrem Schreibtisch zurücksteckte. Ich beobachtete sie immer höchst aufmerksam, wenn sie dieses Ritual ausführte. Zuerst nahm sie einen Schlüssel aus der oberen linken Schublade ihres Schreibtischs, dann ging sie damit zu dem Aktenschrank, sperrte die mit QRS markierte Lade auf, gab meine Akte hinein, schloß wieder zu und legte den Schlüssel in ihren Schreibtisch zurück. Es war immer der gleiche Ablauf.
Und noch etwas änderte sich bei Miss Benson nie: ihr Jahresurlaub, wenn sie »ihre Leute«, wie sie es nannte, in Adelaide besuchte. Diese Reise fand immer im September statt, und ich erwartete sie so sehnsuchtsvoll wie andere Leute die Ferien.
Als der Krieg erklärt worden war, befürchtete ich schon, sie würde ihre Gewohnheiten nicht beibehalten, vor allem, weil man uns sagte, daß wir alle Opfer bringen müßten.
Miss Benson jedoch schien keine Opfer zu bringen und fuhr auch in diesem Jahr am gleichen Tag wie immer nach Adelaide, trotz Reisebeschränkungen und sonstigen Erschwernissen. Nachdem das Taxi sie zum Bahnhof gebracht hatte, wartete ich fünf Tage, ehe ich es wagte, meinen nächtlichen Coup zu landen.
In der sechsten Nacht lag ich bis ein Uhr wach und rührte keinen Muskel, bevor ich nicht sicher war, daß alle sechzehn Mädchen in meinem Schlafsaal auch wirklich fest schliefen. Dann stand ich auf, borgte mir die kleine Taschenlampe aus der Schublade meiner Bettnachbarin und ging zur Treppe. Für den Fall, daß man mich unterwegs entdeckte, hatte ich bereits die Ausrede parat, daß ich mich nicht wohl fühle, und da ich in den zwölf Jahren im St. Hilda nur selten auf der Krankenstation gelegen hatte, war ich ziemlich sicher, daß man mir glauben würde.
Ich stieg vorsichtig die Stufen hinunter, ohne daß ich die Taschenlampe einschalten mußte – seit Miss Benson weggefahren war, hatte ich diesen Weg übungshalber jeden Morgen mit geschlossenen Augen genommen. Ich schlüpfte in das Arbeitszimmer der Heimleiterin, schloß die Tür hinter mir und knipste jetzt erst die Taschenlampe an. Ich schlich auf Zehenspitzen zu Miss Bensons Schreibtisch und öffnete behutsam die obere linke Lade. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß sich darin etwa zwanzig verschiedene Schlüssel befanden, einige im Satz an Ringen, andere einzeln, und alle ohne Anhänger. Ich versuchte, mich an Form und Größe des einen zu erinnern, den Miss Benson immer für den Aktenschrank herausgeholt hatte, konnte es aber nicht, und so mußte ich mehrere Male zwischen
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