Archer Jeffrey
Aktenschrank und Schreibtisch hin und her, bis ich endlich den Schlüssel entdeckte, der sich um hundertachtzig Grad im Schloß drehen ließ.
So leise ich konnte, zog ich die Lade heraus, trotzdem hatte ich das Gefühl, daß es sich so laut wie Donner anhörte. Ich hielt inne und wagte nicht zu atmen, während ich lauschte, ob sich im Haus etwas rührte. Ich spähte sogar durch den unteren Türspalt, um zu sehen, ob ein Licht eingeschaltet worden war. Nachdem ich sicher war, daß niemand mich gehört hatte, ging ich die Namen in der QRS-Lade durch: Roberts, Rose, Ross … Ich zog meine Akte heraus und trug die schwere Mappe zum Schreibtisch. Ich setzte mich auf Miss Bensons Stuhl und überflog im Licht der Taschenlampe jede Seite. Da ich fast fünfzehn war und mich seit etwa zwölf Jahren im St. Hilda befand, war meine Akte naturgemäß ziemlich dick. Alle meine Untaten waren darin aufgeführt, angefangen damit, daß ich als Kleinkind das Bett genäßt hatte, aber auch Lob und Auszeichnungen, vor allem für Bilder, die ich gemalt hatte, besonders für ein Aquarell, das jetzt noch im Speisesaal hing. Doch so sehr ich auch suchte, es gab nichts über die Zeit vor meinem dritten Lebensjahr. Ich begann mich zu fragen, ob das die Regel bei jedem Zögling hier war, deshalb holte ich rasch auch Jennie Roses Akte heraus und warf einen flüchtigen Blick hinein. Zu meiner Bestürzung fand ich dort sowohl den Namen ihres Vaters (Ted, verstorben) und ihrer Mutter (Susan). Auf einem angehefteten Blatt stand, daß Mrs. Rose noch drei weitere Kinder hatte, die sie allein großziehen mußte, und sich nicht imstande gefühlt hatte, nach dem unerwarteten Herztod ihres Mannes noch ein Baby aufzuziehen.
Ich verschloß den Aktenschrank, legte den Schlüssel in die linke obere Schublade von Miss Bensons Schreibtisch zurück, knipste die Taschenlampe aus, verließ das Büro und ging leise die Treppe hinauf und zurück in meinen Schlafsaal. Ich legte die Taschenlampe an ihren Platz zurück und schlüpfte ins Bett. Ich fragte mich, was ich noch tun könnte, um herauszufinden, wer ich war und woher ich kam.
Es war, als hätte ich nie Eltern gehabt und erst mit drei Jahren angefangen zu leben. Und sogar bei einer unbefleckten Empfängnis, und daran glaubte ich selbst bei der heiligen Maria nicht, hätte ich zumindest eine Mutter haben müssen. Mein Verlangen, die Wahrheit zu erfahren, war nun noch quälender geworden. Irgendwann muß ich dann wohl eingeschlafen sein, denn als nächstes erinnere ich mich, daß die Morgenglocke mich weckte.
Als ich meinen Studienplatz an der Universität Melbourne bekam, fühlte ich mich wie ein langjähriger Gefangener, der endlich entlassen worden war. Zum erstenmal im Leben bekam ich ein Zimmer für mich ganz allein, und ich brauchte keine Schultracht mehr zu tragen – nicht daß die Auswahl an Kleidern, die ich mir leisten konnte, die Melbourner Modegeschäfte in Entzücken versetzt hätte. Ich kann mich erinnern, daß ich auf der Universität sogar noch fleißiger lernte, als ich es in der Schule getan hatte, weil ich unbedingt vermeiden wollte, daß man mich für den Rest meiner Tage nach St. Hilda zurückschickte, falls ich meine ersten Semesterabschlußprüfungen nicht bestand. Im dritten Semester spezialisierte ich mich auf Kunstgeschichte und Englisch, beschäftigte mich jedoch weiterhin mit Malerei als Hobby, aber ich hatte keine Ahnung, was ich eigentlich machen wollte, wenn ich meinen Abschluß hatte. Mein Professor meinte, ich sollte überlegen, ob ich nicht einen Lehrberuf ergreifen wollte, aber das erinnerte mich zu sehr an St. Hilda und ich hatte Angst, ich könnte eine Art Miss Benson werden.
Ich hatte kaum Jungs gekannt, bevor ich auf die Universität kam, da sie im St. Hilda in einem gesonderten Gebäudeflügel untergebracht waren und wir Mädchen zwischen neun Uhr morgens und siebzehn Uhr nachmittags nicht mit ihnen reden durften. Bis ich fünfzehn war, glaubte ich, daß man ein Baby bekäme, wenn man einen Mann küßt, und ich hatte immer Angst, schwanger zu werden, vor allem nach meiner Erfahrung, ohne irgendwelche Verwandte aufzuwachsen. Der erste Junge, mit dem ich wirklich ging, war Mel Nicholls, der Kapitän der Footballmannschaft der Universität. Nachdem er mich schließlich dazu gebracht hatte, mit ihm ins Bett zu gehen, sagte er, daß ich das einzige Mädchen in seinem Leben sei, und wesentlicher noch, das erste. Nachdem ich ihm gestanden hatte, daß das auch für mich galt,
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