Argus #5
in Florida halten. Es war ohnehin schon schwer genug, sich als Frau in der Strafverfolgung durchzusetzen, und Daria war noch nüchtern genug, um sich darüber klar zu sein, dass diese Kollegen sie nach der Konferenz als juristische Autorität auf dem Gebiet Sexualdelikte und Sexualstraftäter in Erinnerung behalten sollten und nicht als die Besoffene, die heulend an der Hotelbar saß. Oder schlimmer noch: als die Besoffene, die heulend an der Hotelbar saß und außerdem dafür verantwortlich war, dass der berüchtigtste Serienmörder in der Geschichte der USA aus dem Gefängnis entkommen und spurlos verschwunden war. Es war eindeutig Zeit, auf ihr Zimmer zu gehen, sich ein Schaumbad einzulassen, den Zimmerservice zu bestellen und sich in aller Ruhe die Augen auszuweinen.
Die Kellnerin trat an ihren Tisch. «Alles klar bei Ihnen, Süße?», fragte sie mit gerunzelter Stirn.
«Ich glaube, ich habe irgendwas unter der Kontaktlinse.» Daria griff nach einer Cocktailserviette. «Meine Augen machen mich wahnsinnig. Heuschnupfen.»
«Ach so. Mein Freund hat auch schrecklichen Heuschnupfen. Sie Arme», sagte die Kellnerin und stellte einen weiteren Cosmopolitan vor Daria hin.
«Ich habe nichts mehr bestellt.» Daria hob abwehrend die Hand. «Eigentlich wollte ich Sie gerade um die Rechnung bitten.»
«O nein, Süße. Der ist von dem Herrn da drüben an der Theke. Glauben Sie mir, Sie wollen noch nicht aufs Zimmer gehen. Zumindest nicht allein. Der ist richtig niedlich.» Sie warf das Haar zurück und schaute zur Theke hinüber.
Daria blinzelte ein paarmal energisch, dann folgte sie dem Blick der Kellnerin und hoffte innerlich, dass es Manny wäre. Wie in einer dieser Zeitlupenszenen im Film, in Schlaflos in Seattle zum Beispiel oder Jerry Maguire . Da drüben würde er stehen, in einem der neuen Anzüge, die sie gemeinsam ausgesucht hatten, und sein Glas in ihre Richtung heben. Er hätte ihre Nachricht auf der Mailbox gehört und würde ihr quer durch den Raum ein tonloses «Ich liebe dich auch, Counselor» zuflüstern. Und dann würde er zu ihr kommen, sie würden reden, er würde ihr verzeihen, und sie würden nach oben auf ihr Zimmer gehen und sich bis zum Morgen lieben, und alles wäre wieder gut. Genau wie im Film.
Aber da stand kein Manny. Dafür ein attraktiver, dunkelhaariger Mann in kobaltblauem Streifenhemd, weißer Hose und Slippern, der ihr zulächelte und sein Bier in ihre Richtung hob. Er musste um die dreißig sein und sah aus wie ein Tourist, urlaubsbraun mit klar erkennbarem Sonnenbrillenabdruck und einem leichten Sonnenbrand im offenen Hemdkragen. Die Bräune, die er vermutlich vom Golfspielen hatte, ließ seine Zähne umso weißer leuchten, und das war gar nicht schlecht. Er hatte ein nettes Lächeln.
«Er meinte, ich soll erst nachsehen, ob Sie einen Ehering tragen», fuhr die Kellnerin fort. «Azalea» stand auf ihrem Namensschild. «Echt niedlich. Hat man selten. Glauben Sie einer erfahrenen Kellnerin. Entweder interessiert es die Typen nicht, ob man verlobt oder verheiratet ist, oder es macht sie sogar noch scharf, weil sie dann erobern können, und Männer jagen doch so gern. Das ist dieses Neandertalerding. Und als Bonus gibt’s noch obendrauf, dass man garantiert keine Beziehung will, wenn man schon anderweitig gebunden ist. Ich würde also sagen, das ist ein echt netter Kerl.»
Daria starrte die Kellnerin an. Die drei Cosmos, die sie intus hatte, verlangsamten die Informationsverarbeitung doch erheblich.
«Oh, schauen Sie, jetzt kommt er her», sagte die Kellnerin, die nach einer Strauchpflanze hieß. Sie kicherte. Und noch bevor Daria Einspruch erheben konnte, hatte Azalea ihr das leere Glas weggenommen und war verschwunden. Zehn Sekunden später stand der Tourist an ihrem Tisch.
«Hallo», sagte er.
«Hallo», erwiderte Daria. Dann schwiegen sie beide verlegen.
Daria schaute auf ihr Handy. Keine neue SMS. Auch keine Nachricht auf der Mailbox. Rein gar nichts. Dabei musste er das Handy doch bei sich haben, schließlich hatte er ihr ja diese bescheuerte Nachricht geschickt. Und inzwischen war genug Zeit vergangen, seit sie ihm ihre letzte, wahnsinnig peinliche und wahnsinnig wichtige Botschaft hinterlassen hatte, er hatte sie bestimmt gehört. Und offensichtlich scherte er sich nicht darum. Er würde ihr niemals verzeihen. Damit musste sie sich abfinden, etwas anderes blieb ihr nicht übrig.
Der Tourist beugte sich zu der Topfpalme hinunter und schob ein paar Wedel zur Seite. Die
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