Argus #5
suchte.
Was immer sie dachte, sie lag falsch damit.
Die Gruppe zog weiter ins Haupttreppenhaus, das ganz mit tunesischen Zierkacheln ausgekleidet war. Er bestaunte die dekorative Sitzbank und die Terrakotta-Stufen, genau wie die anderen Besucher auch. Die Dame neben ihm mit dem Riesenhintern und dem geblümten Polyesteroberteil lächelte, als er ihr anbot, ihren Gehstock zu tragen und ihr die Treppe hinaufzuhelfen. Er zwirbelte seinen dicken grauen Schnurrbart und grinste zurück. Ein Hauch Romantik lag in der Luft.
Der Fremdenführer blieb vor der verschlossenen Tür eines Gerichtssaals stehen. «Wird dadrinnen gerade eine Straftat verhandelt?», erkundigte sich Bill.
«Genau. Unser Gericht führt sowohl Zivil- als auch Strafprozesse. Im Augenblick sitzt dort Richter Cassidy in der Sache Das Volk vs. Richard Kassner zu Gericht. Es geht um Brandstiftung und Mord. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, sein ehemaliges Wohnhaus in Brand gesetzt zu haben, während seine Ex-Frau und seine Schwiegermutter dort schliefen. Die Ex-Frau hat es noch nach draußen geschafft, die Schwiegermutter nicht.» Der Fremdenführer legte einen Finger an die Lippen, öffnete die Tür einen Spalt und steckte den Kopf hinein. Dann zog er sich rasch wieder zurück und schloss die Tür. «Tut mir leid. Sie sind gerade bei den Schlussplädoyers, da können wir jetzt nicht rein.»
«Ach, das hätte ich zu gern gesehen.» Bill zog ein enttäuschtes Gesicht.
«Ich auch», sagte seine neue Freundin. «Ich schaue immer so gern The People’s Court .»
Bill grinste. «Ich liebe Judge Judy . Und Judge Alex . Ganz egal – Hauptsache Gerichtsshow.»
Sie lächelte schüchtern, und die Gruppe zog weiter.
Er konnte einfach nicht anders. Er ließ die anderen ein Stück vorausgehen, dann öffnete er die Tür zu Richter Cassidys Gerichtssaal einen kleinen Spalt und linste hinein. Sein Herz klopfte wie verrückt und pumpte Adrenalin durch seine Adern.
Dort stand sie vor den Geschworenen, in ihrem schicken Kostüm, auf ihren hohen Schuhen, mit dem Rücken zu ihm, und verlangte von den zwölf Männern und Frauen, einen Mann zu verurteilen. Einen weiteren Mann für ein paar Dutzend Jahre in den Knast zu schicken. Vielleicht forderte sie ja sogar die Todesstrafe. Er hörte kaum hin, was sie sagte, und es interessierte ihn auch gar nicht. Er war ganz in ihrem Bann. Den Geschworenen ging es genauso. Sie hingen praktisch an ihren Lippen.
Chloe hatte einfach eine starke Wirkung auf Menschen. Sie zog sie an wie ein Magnet. Wahrscheinlich waren die Geschworenen alle von ihr bezaubert. Auch die Frauen. Das kastanienbraune Haar fiel ihr bis auf die Schultern, immer noch erstaunlich voll, dicht und lockig. Er war nur enttäuscht, dass es nicht blond war. Er sah die Gesten ihrer kleinen, zarten Hände, während sie vor den Geschworenen auf und ab ging. Er hörte ihre sanfte, leicht heisere, aber doch kraftvolle Stimme. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, aber er wusste, dass es immer noch schön war, auch wenn es inzwischen lauter Runzeln und Sorgenfalten hatte. Sie würde immer schön bleiben. Sie hatte den perfekten Knochenbau. Gute Gene. Hohe Wangenknochen, ein herzförmiges Kinn, perfekt geschwungene Brauen, einen Porzellanteint und diese feurigen, smaragdgrünen Augen. Eine Schönheit, die der Zeit trotzte, wie eine griechische Göttin. Genau deswegen hatte er sie ausgesucht. Chloe war nicht einfach nur hübsch – sie war außergewöhnlich. Selbst ungeschminkt war sie noch perfekt. Eine solche Schönheit ließ sich nicht durch eine langweilige Haarfarbe, unauffällige Kleidung und eine Brille zähmen oder verstecken. Komisch eigentlich, dass sie das je geglaubt hatte. Er blieb dort stehen und sah ihr zu, bis der Richter ihn entdeckte, die Stirn runzelte und ihn mit einer Handbewegung verscheuchte. Rasch zog er sich auf den Flur zurück, genau in dem Moment, als die Anklägerin sich umdrehte, um nachzusehen, was ihren Richter so verärgerte.
«Ich war noch nie bei einer echten Verhandlung», flüsterte er seiner Freundin zu, die draußen vor der Tür auf ihn wartete. «Ich konnte einfach nicht widerstehen, mal reinzuschauen.»
Sie lachte. «Und, war es spannend?»
«O ja», antwortete er, fasste sie sanft am Ellbogen und führte sie den Flur entlang, wo der Rest der Gruppe wartete. «Richtig aufregend sogar. Ich kann es kaum erwarten zu hören, wie die ganze Sache ausgeht …»
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V ance wollte seine Trumpfkarte nicht ausspielen, aber ihm blieb keine
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